Full text: Vorbuddhistische Zeit. Die hohe Kunst: Malerei und Bildhauerei (Band 1)

   
   
  
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
  
  
   
208 Fremde Religionen und Völker 
ist keine Grenze zwischen Mensch und Natur. Der Mensch ist darin ein Stück 
Natur und die Natur ein Stück Mensch.“ 
Leonardo da Vinei: ‚,... Diese Zeit brachte den Mann hervor, der ähnlich 
wie Goethe über allen Religionen stand, der Gottnatur hatte, weil er Wissen- 
schaft und Kunst besaß, Leonardo da Vinci.“ „In seinen Werken redet dieses 
Kulturgefühl aus den wunderbaren Landschaften; allen kommenden Zeiten war 
damit die Malerei an die Natur festgebannt. Sie konnte nicht wie die anderen 
Künste sich schrankenlos der Menschenverehrung, der Menschenanbetung hin- 
geben, sie konnte nie mehr ganz psychologische Kunst werden. Die Landschafts- 
malerei war durch Leonardo zu einer Höhe gehoben worden, von der sie nicht 
mehr verdrängt werden konnte.“ 
Rembrandt: ‚Auch der merkwürdigste aller Maler, der, ganz einzig da- 
stehend, in sich die Kunst der Psychologie und der Gottnatur vereinigte, der 
Holländer Rembrandt, ist im Grunde ein Schüler Leonardos.‘“ „Kein Maler hat 
aber auch Bilder geschaffen, aus denen so Gottnatur spricht, wie aus denen 
Rembrandts.“ 
Die inneren Zusammenhänge dieser drei Genies hat Groddeck aus rein 
ästhetischer Betrachtung mit feinem Verständnis erkannt, während meine obigen 
Ausführungen — Monate vor Kenntnisnahme des Groddeckschen Buches ge- 
schrieben — die Beeinflussung aus gemeinsamen chinesischen Quellen für die Werke 
gerade dieser drei Meister historisch nachzuweisen versuchte. Goethes eigene Worte 
(8. 34) betonen die Ähnlichkeit seines „Hermann und Dorothea‘ mit dem Geiste 
chinesischer Dichtung, und gewisse Eigenarten in der Farben- und Formen- 
sprache Leonardos und Rembrandts konnten wir (S. 204.05) an den Originalen 
vergleichen. Somit sehen wir den Geist jener Kulturschicht, die wir als die der 
Antike bezeichnen, das Sicheinsfühlen mit der Natur, in der chinesischen Literatur 
und Malerei erhalten und weiterentwickelt, um rückstrahlend die größten Genies 
des modernen Europa zu beeinflussen. Von den alten Griechen und Germanen 
zu den großen Meistern der Renaissance und zu dem Altmeister Goethe ging 
der Weg dieser antiken Weltauffassung über China! 
Wir Modernen haben kaum mehr ein so inniges Verständnis für das Weben 
und Leben in der Natur, wie es in der alten Zeit des Naturkultus lebendig war. Im 
besten Falle empfinden wir das Werden und Vergehen oder den Kampf ums Dasein 
oder den Wechsel von Licht und Schatten, von Erde und Wasser, von Kälte und 
Wärme. "Wir erfreuen uns an den schönen Farben der blühenden Blumen oder dem 
leuchtenden Glanze der sinkenden Sonne, aber im Altertum galten noch symbolische 
Nebenbegriffe, die im Zeitalter der mikroskopischen Untersuchungen nicht mehr 
lebendig sind. Für uns ist der Vogel ein fliegendes, zwitscherndes Tier, aber der 
Chinese unterscheidet die Sommer- und Winterfedern, den Ort des Nestes und 
des Aufenthaltes, das Familienleben und das Alter, und alles bekommt für ıhn 
beachtenswerte Bedeutung. 
Im eifrigsten Studium mit hingebender Liebe beobachtet der Sungkünstler 
nicht nur das Gegenständliche in der Landschaft, sondern vor allem die Stim- 
mung. Die mystische Wirkung von Morgennebeln oder Mondscheinnächten, von 
Frühlingserwachen oder Winterschlaf interessierte die an der Iyrischen Dichtung 
geschulten Literaturkreise am stärksten, so daß die gleiche Landschaft in den 
verschiedensten Stimmungen dargestellt wurde. Und bei den Tieren ist es wie 
bei den Menschendarstellungen, es wird gleichsam die Seele des Tieres erfaßt und 
im frischen Eindruck lebendig, aber nicht sachlich abgemalt, und dieser Stimmung 
wird auch die umgebende Landschaft angepaßt. 
Diese Liebe zur Natur, das Entsagen des Lebensgenusses nach der buddhisti- 
schen Lehre und das geheiligte Beispiel berühmter Priester und Gelehrten aus der
	        
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