912 Sungzeit (960— 1280)
zahlreichsten erhalten zu sein scheinen oder am beliebtesten waren und daher am
meisten kopiert wurden.
Mögen die in der Kokka abgebildeten Malereien Originale sein oder nicht, jeden-
falls zeigen sie im Aufbau der Linien und den feinen Farbenharmonien die Hand
eines ersten Meisters. Wir sehen den Heiligen (Taf. III, C)!) in zwangloser Pose
mit einem Hirsche, der eine Blume im Maul trägt, sich unterhalten, während eine
Frauengestalt in ehrfurchtsvoller Stellung eine Vase mit einer Lotusblume herbei-
tragt.
Auf dem anderen Bilde (Taf. III, B) sitzt der Schüler Buddhas in ernster Haltung
unter Felsen und Blumen, während ein hoher Staatsbeamter oder der Kaiser selbst
in anbetender Stellung neben ihm steht. Die Größenverhältnisse zeigen den Unter-
schied zwischen den Heiligen und den Menschen. Der nach dem Leben in freier
Stellung gemalte Arhat (C) ist in Tracht, Gesicht, Schuhen und langen Fingernägeln
der typische Chinese, während sein Gegenstück (B) alle charakteristischen Merkmale
des indischen oder zentralasiatischen Ariers hat. Die großen, geraden Augen, die
starken Augenbrauen, der Schnurrbart, die eckige, spitze Nase, die nackte Schulter,
die dicken Finger mit kurzen Nägeln, die bloßen Füße mit Sandalen, das weite, rote
Gewand mit dem farbigen Unterkleid, der ernste, fast böse Ausdruck und die sicht-
baren Zähne sind alles typische Eigentümlichkeiten für die Darstellung der Ausländer
(s. 8. 148). Die feierliche Haltung entspricht der Tradition.
Die Gesichter sind großzügig und einfach geformt und erinnern an Ku Kaichihs
Vortrag und an die Fresken in Turkistan, aber die weichen Rundungen der Linien,
abgetönt durch milde Farben, entsprechen der Tangzeit, während die genrebild-
artige Auffassung und der angedeutete Landschaftshintergrund den freien Geist
der Sungzeit atmen. Im Gegensatz zur überlieferten linearen Ausführung der
Menschengestalten sind die Landschaften mit breitem Pinsel in verlaufender Tusche
gemalt.
Diesen Dualismus in der Kunst zwischen den geraden und gebogenen
Linien und den freien Formen der Natur vergleicht Binyon mit dem eckigen Turm
und der geraden Straße in der Landschaft, im Gegensatz zu dem fließenden Strom,
den schwingenden Ästen und den weichen Konturen der Wolken. Es ist der Instinkt
für Ordnung und für Freiheit. Es ist die Antithese der Tendenzen, die wir, je
nachdem das eine oder das andere Element überwiegt, Klassik oder Romantik
nennen. War Ku Kaichih noch an die antik-klassischen Formen gebunden, so hatte
Wang Wei die romantische Landschaft geschaffen und Li Longmien vereinte beides.
In voller Naturwahrheit sind die Einzelheiten, wie der Faltenwurf des Ge-
wandes, die Ohrringe, der Kopfschmuck, die Muster der Kleider gegeben, aber dennoch
tritt durch die farbige Behandlung kein Teil störend hervor. Alles ist zu einem har-
monischen Farbenakkorde verschmolzen, dessen weiche Töne die feierliche Stimmung
verstärken, die von den hellen Mittelpunkten der Bilder, den Köpfen der Heiligen
ausgeht. Wenn wir die Eigenarten dieser Bilder genau studieren, so werden wir am
besten erkennen können, welche Abweichungen auf anderen, Li Longmien zu-
geschriebenen Bildern die Kopisten hinzugefügt haben.
Auf den Seidenrollen sehen wir besonders bei dem Hirsch große Flecken und
über das ganze Bild Linien und Flecken, die durch das Abblättern der Farbe
und die Brüchigkeit des Grundstoffes entstanden sind. Der Zustand alter Bilder ist
ein delikater Punkt. Bei den zarten Wasserfarben, dem empfindlichen Seidenstoff oder
Papier und der Sitte des Aufrollens ist das Verblassen und Abblättern der Farbe eine
Notwendigkeit. Andererseits entsteht eine Patina, die— ähnlich wie auf alten hollän-
dischen Bildern — erst jenes weiche Zusammenklingen der ursprünglich vielleicht
!) In Schwarzdruck bei @iles, History of Chinese pictorial art, Tafel zu S. 108.