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sind die alten Bronzen modelliert (Abb. 104), und wie weich ist jetzt der Fluß der
Linien und wie graziös die Stellung! Das Gesicht hat etwas Mildes und Verklärtes,
und der Hintergrund ist dem Geiste der Göttin stimmungsvoll angepaßt. Auf der
runden, großen Gloriole hebt sich der Kopf mit seiner gefälligen Haarumrahmung
wirkungsvoll ab. Die Göttin sitzt auf einem Felsen der Erde, dahinter das weite
Meer und über ihr der unendliche Himmel. Jene heilige Dreiheit der Welt ist an-
gedeutet, die in symbolischer Weise auf vielen Bildern wiederkehrt. Alles ist in
schwarzer Tusche weich verlaufend gemalt, während die Figur in der üblichen
Linienführung gezeichnet ist.
Neben den warmen, farbigen Tönen sind auch im älteren Stile der Tangzeit
bunte Farben in zierlicher Miniaturmalerei angewendet. Nur wenige derartige Ori-
oinale sind bisher bekannt geworden. Das Porträt eines Priesters (Taf. IV, B) er-
scheint sehr bunt und grell, aber es ist wahrscheinlich, daß diese Nachteile erst auf
den Reproduktionen entstanden sind und das Original weichere Übergänge auf-
weist. Der singende Mund ist leicht geöffnet und läßt die Zähne zwischen den Lippen
hervorschauen. Die Augen sehen interessiert in die Welt, und ihre Wirkung ist ge-
steigert durch lang herabhängende Augenbrauen — das ganze Gesicht ist in leben-
digem Ausdruck, während die Haltung des Priesters mit dem Zepter in den Händen
in feierlicher Würde erfaßt ist. Der Hintergrund ist mit hingestreuten hellen, Blumen
symbolisch dekorativ belebt. Die Einzelausführung, besonders des Tisches mit dem
langstieligen Räuchergefäß und den Schriftrollen, sowie dem Lackbilde auf der
unteren Platte erinnert an die naturalistische und elegante Art der früheren Tangzeit.
Dem gleichen, minutiös ausgeführten Stile gehört ein anderes Rollbild an
(Taf. IV,C), das den berühmten Priester Hsüan Tsang (602—664) aus Honan darstellt.
Er wanderte nach Indien, um die heiligen Plätze zu besuchen, und brachte im Jahre
645 von dort gegen 650 buddhistische Bücher und Bilder, sowie 150 Antiquitäten
mit. Für den Kaiser schrieb er einen Bericht über die westlichen Länder und ver-
brachte den Rest seines Lebens damit, die indischen Bücher zu übersetzen. Diese
Arbeiten haben mit dazu beigetragen, daß in der Tangzeit das buddhistische Pantheon
vergrößert und eine immer genauere Spezifizierung der Göttergestalten durchgeführt
wurde. Auf unserem Bilde sehen wir den erfolgreichen Pilger, wie er, das Traggestell
auf dem Rücken, hoch beladen mit Büchern, heimkehrt. Die heiligen Schätze bedeckt
ein Schirm, an dem vorn eine kleine Ampel hängt. Die kleinliche und bunte Art
der Malerei läßt die Entstehung in der Tangzeit vermuten, aber die Ausführung soll
nach :Angabe japanischer Forscher erst in der Sungzeit erfolgt sein.
Landschaftsmalerei
Japanische Gelehrte bezeichnen als eines der Grundgesetze der Sungmaler:
„Gemälde sollen die Empfindungen eines poetischen Temperamentes in gleichem
Maße zeigen, wie die Poesie die Seelenstimmung eines Künstlers erkennen läßt.“
Waren die buddhistischen Bilder Illustrationen der philosophischen Gedanken, so
waren die Landschaften die Niederschrift der Poesien.
Goethes „Über allen Wipfeln ist Ruh‘ und Heines Lied vom ‚„Fichtenbaum
und der Palme‘ entsprechen jener lyrischen Stimmung, die fast dreitausend Jahre
vorher in China begonnen und in der Tang- und Sungzeit zum Gemeingut des Volkes
geworden war.
Diese Art der Lyrik verglich in anschaulicher Art Ereignisse und Seelenstim-
mungen mit den sorgfältig beobachteten Vorgängen in der Natur. Es sind poetische
Skizzen des Naturbildes, die nunmehr in die Malerei übertragen wurden. Nicht
mehr sollte die Landschaft als Erinnerung an eine Tat, als Folie der Handlung