Verse — Lyrische Landschaften — Motive 99
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Stück Religion und Lebensideal. Wie bei uns die Sprüche Salomos — Zeit-
genossen vieler chinesischer Verse — oder andere goldene Worte der Bibel, wie
die Verse Goethes oder Heines, so üben in China die klassischen Lieder mit
ihren Vergleichen und Beispielen aus der Geschichte einen pädagogischen Wert
aus. Selbst die Taten des Kaisers werden stets an Hand dieser alten Tradition
geprüft und beurteilt. Sie ist gleichsam der Moralkodex des chinesischen Volkes.
Die Sungkünstler verstehen es, besonders auf monochromen oder ganz leicht
getönten Bildern diese stimmungsvollen Empfindungen der Poesie wiederzugeben.
Mit wundervoller Virtuosität erzielen sie alle Wirkungen der bunten Farben durch
weiche, in einander übergehende Nuancen oder stark betonte Linien. In ihrer
Abb. 170 Landschaft, schwarzweiß, auf bräunlicher Seide, Hsia Kuei, um 1200
(Aus: Kokka, Heft 34) — Text s. 8. 226
Meisterhand erhält die schwarze Tusche eine derartige Vielseitigkeit des Ausdruckes,
daß wir das Fehlen der Buntheit kaum bemerken. Der Hintergrund ist durch ver-
schieden starken Auftrag und Auswaschen in abgestuften Tönen bis zu einem in
Nebel zerfließenden Hauch abgestimmt, während der Vordergrund bald mit spitzem,
bald mit breitem Pinsel mehr sorgfältig ausgeführt ist. Wie Gedichte wirken die
Bilder! Romantische Landschaften, harmonisch zusammen komponiert! Der
Geist der aufkommenden Zensekte, der nicht die Wirklichkeit, sondern das Ab-
strakte liebte, bevorzugte und förderte die Schwarzweißskizze.
Charakteristisch für die Bilder der Sungzeit ist das einfache Motiv,
das schlicht und klar vorgetragen wird. Ein einzelner Baum genügt dem Künstler;
aber selbst wenn reichere Landschaftsbilder in einem kleinen Raume vereint
werden sollen, ist in großzügiger Weise nur das Wesentliche hervorgehoben und
Münsterberg, Chinesische Kunstgeschichte 15