Full text: Vorbuddhistische Zeit. Die hohe Kunst: Malerei und Bildhauerei (Band 1)

   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
    
Muchi — Tiger — Drache — Nebellandschaft — Arhat 
  
Abb. 178 Schlafender Tiger, schwarzweiß, zugeschrieben Muchi, Sungzeit 
(Aus: Kokka, Heft 12) 
Text s. S. 231 u. 232 
schied in der Ausführung! Millet stellt Menschen in den Vordergrund, deren Be- 
wegung den Inhalt des Bildes erklärt, aber der Chinese braucht keine Figuren, nur 
eine Suggestion; alles andere muß der Bewunderer des Bildes selbst hinzutun. 
Niemals in der Welt ist vor den modernen Malern unserer Zeit eine Landschaft 
nur als Stimmung aufgefaßt und gemalt, außer fast tausend Jahre vorher in China! 
Dieses Bild ist ein alter Familienschatz der gräflichen Matsurafamilie in Japan, 
deren Ahne einst Daimio von Kyushu war. Das Alter des Bildes ist verbürgt, 
vielleicht ist es von Muchi gemalt, jedenfalls ist es ein Meisterwerk in Ausführung 
und Erfindung und ein glänzendes Beispiel dieser spezifisch chinesischen Kunst 
der Sungzeit. 
Ebenfalls in voller Meisterschaft ist ein Arhat (Abb. 181) und vor allem ein 
Triptychon (Abb. 182) im Daitokujitempel zu Kyoto gemalt. In der Mitte sitzt die 
weißgekleidete Gottheit der Barmherzigkeit, Kwanyin, mit einem Diadem in be- 
schaulicher Ruhe auf ihrem Thron, umgeben von Wolken, aus denen Baumzweige 
in geschmackvoller Weise heraustreten. Neben ihr auf einem Felsen eine Blumen- 
vase in schlanker Form. Ein vornehmes, einfaches Bild; alles weich und fließend. 
Eingerahmt wird diese Mitte von zwei Gegenstücken, die mit das Schönste an Tier- 
bildern sind, was uns aus dieser Zeit bekannt geworden ist. Der heranschreitende 
Kranich mit den aufgeplusterten Federn, dem offenen Schnabel und den ausschreitenden 
Beinen zeigt in großzügigem Stile die aggressive Bewegung des Tieres. Wenige 
Bambusblätter und -stämme geben einen stimmungsvollen Hintergrund. Auf der 
anderen Seite: eine Affenmutter mit ihrem Jungen auf einem Baumzweige. Wie 
fügen sich die Linien im Triptychon zusammen! Von den Wurzeln des Bambus und 
den Füßen des Kranichs geht die Linie nach oben, um auf dem schrägen Aste des 
Affenbildes wieder herabzusteigen. Es ist dieselbe Idee des Gegensatzes, wie die des 
auf- und absteigenden Drachen: das männliche und das weibliche Prinzip. Der 
mutige Angriff des Reihers und die schützende Mutterliebe, der Kampf des 
Lebens und in der Mitte die himmlische, in Ruhe thronende Gottheit. Alles 
symbolisch und bedeutungsvoll im Inhalt, im Aufbau der Linien und in der Tönung 
der Ausführung.
	        
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