Full text: Vorbuddhistische Zeit. Die hohe Kunst: Malerei und Bildhauerei (Band 1)

    
     
I RETTEN ERNETERRE 
     
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
   
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
   
  
   
  
  
   
  
  
   
  
   
  
  
  
   
  
    
     
    
  
Dichtkunst — Goethe — Barbaren 35 
alten Ideen durch neue zu ersetzen. Das ewige Hinschauen nach dem Alten hat 
die Kraft, Neues zu schaffen, untergraben. 
Am typischsten für diesen Zopf der Tradition ist das fünfte der heiligen Bücher, 
„Der Kanon der Gebräuche“ (Liki), in dem bis in das kleinste Detail alle Regeln 
niedergeschrieben sind, die der Chinese im täglichen Leben beachten soll. Es ist ein 
Zeremonienkodex für den Privatmann. 
Haben die Geschichtsbücher die Moral, die Gedichte die Empfindungswelt in 
feste Formen geschmiedet, so finden wir hier Vorschriften, die jene typischen Formel- 
menschen schufen, als welche uns die Chinesen stets erscheinen. Die leere Form 
erhält eine fast heilige Bedeutung, und nach dem Geiste, der sie schuf, wird nicht ge- 
fragt. Deshalb können Bilder von vor 1000 Jahren vortreffliche Illustrationen für 
heutige Verhältnisse sein und umgekehrt. 
5. bis 3. Jahrhundert v. Chr. 
Die politischen Verhältnisse hatten die Kräfte des Reiches immer mehr zer- 
splittert. Kleine selbständige Staaten an den Grenzen erweiterten ihre Gebiete auf 
Kosten der umliegenden Barbarenstämme. Am Yangtsefluß hatte sich ein 
neuer Manstaat unter der Leitung von chinesischen Abkömmlingen gebildet, die 
chinesische Verwaltung und Sitten einführten, so daß die chinesische Kultur in diese 
Barbarenvölker einzudringen begann. Ähnliche Verhältnisse entstanden im Westen 
und Norden. Jahrhundertelang dauerten die blutigen Kriege der Feudalstaaten 
untereinander. 
Es scheint, daß damals in Zentral- und Nordasien große Bewegungen unter den 
Steppenvölkern stattfanden. Wir hören von verschiedenen Völkern, die als Skythen, 
Geten, Yuechi, Hunnen u. s. w. auf dem historischen Schauplatz nacheinander er- 
scheinen, aber wir werden uns wohl hüten müssen, und zwar je später die Zeit, um so 
sorgsamer, diese Namen und ähnliche als „politische oder gar ethnologische Einheiten 
erkennen zu wollen: sie bezeichnen durcheinander geworfene Völkerschaften des 
inneren Asiens, die sich schon in weit zurückliegenden Zeiten wiederholt in ihrem 
unruhigen Berg- und Steppenleben voneinander losgelöst haben und neue Ver- 
bindungen eingegangen sein mögen. Die Namen, die gewiß einst eine viel engere 
Bedeutung gehabt haben, sind dauernder gewesen als die Rassen oder Volkseinheiten, 
und nur selten mögen sie uns als Führer dienen, um den Weg zu diesen letzteren 
zurückzufinden.‘“ !) 
Diese Grenzvölker begannen sogar einen Einfluß auf chinesische Sitten aus- 
zuüben, indem Wuling (329—299 v. Chr.)?) das chinesische Staatsgewand durch das 
tatarische ersetzte, das mit seinen kurzen Schaftstiefeln an Stelle der Strohsandalen 
und mit seinem mehr anliegenden Rock an Stelle der weiten, behindernden Ärmel 
für schnelle Bewegungen des Körpers besser geeignet war. Noch wichtiger war die 
Einführung der Kavallerie nach dem Beispiel der Reitervölker der Steppen mit 
ihrem Bogenschießen vom Pferde aus, anstatt von dem schwerfälligen Kriegs- 
wagen. Mit der kriegsmäßigen Verwendung der Pferde dürfte auch der Sattel 
und der Steigbügel aus dem Innern Asiens nach China gelangt sein. Die in China 
übliche Wagenform, die als Staatswagen des Kaisers noch im letzten Jahrhundert 
gebraucht wurde, finden wir ganz ähnlich auf dem berühmten Mosaik der 
1) O. Franke, Beiträge aus chinesischen Quellen zur Kenntnis der Türk -Völker 
und Skythen Zentralasiens. K. Preuß. Akademie d. Wissenschaften, Berlin 1904, 8. 45. 
2) Laufer, Chinese pottery of the Han Dynasty, 1909, 8. 216. — Chavannes, Les 
de Se-ma Ts’ien, Bd. V, S. 73. Auch bei Franke und Hirth. 
mömoires historiques 
 
	        
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