56 Hanzeit — Mittelasiatischer Mischstil
Auch wenn wir die Ranken näher betrachten, so finden wir nicht die grie-
chischen Prinzipien der edelgeformten fortlaufenden Ranke mit ihrem gleichmäßigen,
der Steinarchitektur entlehnten Rhythmus, sondern e:n unruhiges Durcheinander von
Ahb. 40 Gefäß aus Ton in Form eines
Brunnens mit aufgesetztem Schöpfeimer
auf dem Rande, Rolle auf Gestell mit
Dach, rechts und links „Drachen“köpfe,
Totenbeigabe aus Gräbern der Hanzeit,
206 v. Chr. bis 221 n. Chr.
(Aus: Laufer, Chinese pottery of the
Han Dynasty, Taf. XXV)
hin und her wogenden einzelnen Ranken-
motiven, die sinnlos, in rein dekorativem
Spiele, die ganze Fläche füllen. Es ist der rein
ornamentale Stil der primitiven orientalischen
Kunst. Die einzelne Verzierung ist noch an
die Fläche des Gegenstandes gebunden und
hat, losgelöst von ihr, gleichsam noch keine
selbständige Existenzberechtigung erlangt.
Wenn aber Versuche (Abb. 33) zu einer Einzel-
darstelung wie bei den Pflanzen und
Schmetterlingen, die beide uns hier zum ersten
Male in der chinesischen Kunst begegnen,
gemacht werden, dann ist die Ausführung
durchaus mangelhaft. Spiegel mit einer mehr
im griechischen Sinne durchgeführten Orna-
mentik gehören erst einer viel späteren Zeit an.
Wir haben es daher bei den Spiegeln
nicht mit einem speziell griechisch-baktrischen
Einfluß, sondern mit einer mittelasiatischen
Ausbildung des westlichen und — ebenso wie
bei den Steinreliefs — mykenischen Kunststiles
zu tun, der vielleicht auch im Laufe der Zeit
durch griechische Motive bereichert sein mag,
wie auch gleichzeitig orientalische Motive nach
Europa drangen. Es ist ein mittelasia-
tischer Mischstil, der nach China drang
und dort eine neue Epoche der Kunst bedingte.
Laufers erfolgreichem Sammeleifer ver-
danken wir die Kenntnis zahlreicher Töpfe-
reien aus Gräbern der Hanzeit. Neben dem
Stile der Steinreliefs und der Bronzespiegel
lernen wir einen eigenartigen Töpfereistil
kennen.!) Gleichzeitig können wir aus den Toten-
beigaben in Miniaturausführung wichtige Rück-
schlüsse auf die damaligen Volkssitten ziehen.
Auf dem einen Steinrelief (Abb. 27)
hatten wir den alten Brunnen mit dem
Schwengel kennen gelernt, der eine geringe
Tiefe des Wasserspiegels voraussetzt. In der
Hanzeit sind neue, verbesserte Techniken
angewendet, der Brunnen ist offenbar tiefer
gegraben, und so wie in Europa wird der
Schöpfeimer über einer Rolle am Seil in
in den tiefen Schacht hinabgelassen. Als Totenbeigaben hat sich ein Tongefäß
(Abb. 40) gefunden, das den Brunnen in allen Einzelheiten en miniature dar-
stellt. Wir sehen die steinerne Einfassung des Brunnenschachtes, auf dessen Rand
tafeln.
!) Laufer, Chinese pottery of the Han Dynasty. Leiden 1908. 75 Liehtdruck-