Allgemeines 91
beibehalten bleibt; natürlich gibt es auch Ausnahmen. Die erste Form
wird durch den Zufall der fremden Einflüsse und der entstandenen Bedürfnisse
. geschaffen, aber sobald sie feststeht, vererbt sich die Form und bleibt maß-
gebend für Jahrtausende. Keine Laune der Mode kann eine eingreifende Änderung
hervorrufen. Material, Form und Ornament wurden für jede Gruppe zu einem
Kanon gestaltet, an dem wie an einem heiligen Vermächtnis der Ahnen ebenso
festgehalten wird, wie an der Verehrung der Ahnen selbst.
Derartige Gewohnheiten sind, in begrenztem Umfange und oft lokal verschieden,
auch in Europa nicht unbekannt. So trinken wir das Bier aus Zinn- und Stein-
krügen des Mittelalters, aber die Modegetränke des 18. Jahrhunderts, Tee, Scho-
kolade und Kaffee, aus dem gerade damals erfundenen Porzellan, während in den
Ländern, in denen die Porzellanfabrikation erst später allgemeine Anwendung
fand, wie in Rußland, Spanien usw., das Glas üblich wurde und blieb. Aber dies
gilt nicht als geheiligte Regel für Europa, sondern ist eine freie Gewohnheit, die in
einem Falle sich im Volke erhält, im anderen abgelöst wird; so trinkt man Bier nicht
nur aus Steingut und Zinn, sondern in moderner Zeit auch aus Gläsern, die in
Amerika und Frankreich, wo das Bier eine neue Mode ist, fast ausschließlich ge-
braucht werden. Dagegen würde dem Chinesen eine Teetasse aus Glas oder Eisen
statt dem altgewohnten Steingut oder Porzellan undenkbar sein.
Dieses Gesetz der Tradition ist so unabänderlich, daß umgekehrt aus dem an-
gewendeten Material der einzelnen Gebrauchsgegenstände häufig auf die Zeit
ihrer ersten Entstehung oder Einführung im chinesischen Lande geschlossen
werden kann. Z. B. Amulette, kaiserliche Siegel und kaiserliche Zepter sind meist
aus Stein, vorwiegend aus Jade, gefertigt, und ihre erste Anwendung weist
dadurch in jene frühen Zeiten hin, in denen der Stein das begehrteste Material war.
Auch die tönernen Gefäße für die Getränke der Geselligkeit lassen ihre erste An-
wendung in sehr alten Zeiten erkennen. Wiederum die Opfergefäße, aus denen
später Räucherbecken und Vasen gestaltet wurden, die runden Spiegel und gewisse
buddhistische Kultgegenstände blieben stets aus Bronze gegossen, da sie in der
Bronzezeit in Aufnahme gekommen waren. Entstanden durch die Entwicklung
der Zeit neue Probleme und neue Sitten, so wurden zu ihrer Befriedigung die
inzwischen neu entstandenen Techniken dienstbar gemacht.
Es entspricht dem uralten Kultus des Ahnenglaubens, der Auffassung des
Kaisers als den ‚‚Himmelssohn“, der Wertschätzung der Werke des Konfuzius
als kanonische Bücher, der unveränderten Beibehaltung der alten Bildschrift —
kurz, der ganzen Kultur Chinas, daß die einzelnen Symbole dieser Kultur konser-
viert wurden wie die Kultur selbst. So entstand in Ostasien nicht die Frage, ob prak-
tisch und billig, sondern ob durch die Tradition geheiligt und den Vorschriften der
Ahnen entsprechend. Nicht nur der Gegenstand. selbst, sondern auch das Material,
die Form und das Dekor erhielten symbolische Bedeutung.
Diese Auffassung schließt nicht etwa eine Stiländerung im Laufe der
Zeiten aus; aber der Stil berührt nicht die Auswahl des Materials oder der Grund-
formen im Dekor und im Aufbau, sondern ausschließlich die technische Durch-
führung. Es läßt sich an der großzügigen Erfassung der Gesamtform oder an der
schärferen Ausarbeitung der Verzierungen oder an der delikaten, aber kleinlichen
Durchführung der Einzelheiten eine Entwicklungsreihe feststellen, die für die Malerei
benso gilt wie für alle Gebiete des Kunstgewerbes. Während die Architektur,
anders als in Europa, gar keinen Einfluß auf den Stil ausübte, hat die Malerei stets
das grundlegende Schema für die Auffassung bei allen Arbeiten des Kunstgewerbes
in Asien gebildet und bildet es heute noch. Die alten Werke wurden in immer neuer
Übersetzung der jeweiligen Zeitsprache nachgeformt. Es waren zeitgemäße, indivi-
duelle Wiederholungen, keine rein mechanischen Nachbildungen.