Einleitung
„Begriffe ohne Anschauung sind leer,
Ansehauung ohne Begriff ist blind.“
Kant.
Der vorliegende Band der ‚Chinesischen Kunstgeschichte‘ behandelt im Sinne
des ersten Teiles die Entwicklung der Stile, ihre Entstehung, ihre Abhängigkeit
von fremden Einflüssen, ihre gegenseitige Befruchtung und ihre historische Ent-
wicklung.
In dem Bestreben, durch möglichst viele Abbildungen ein reiches Anschauungs-
material zu geben, mußte ich bei dem festgelegten Umfange des Buches den Text
sehr beschränken. Untersuchungen über die dargestellten Motive, über die Künstler
und ihre Schulen, über die Vielseitigkeit der Muster, über die feineren Unterschiede
der Techniken und anderes mußten unberücksichtigt bleiben. Die Literaturhinweise
in den Anmerkungen dürften wenigstens teilweise einen willkommenen Ersatz bieten.
Schon im ersten Bande (8.4) habe ich darauf hingewiesen, daß in dem Zu-
sammenhange meiner Arbeit die Richtigkeit und die Orthographie der chinesischen
Künstlernamen nur eine sehr untergeordnete Bedeutung hat, und ich ihr daher
keine besondere Beachtung geschenkt habe.
Wie William Cohn sehr treffend ausführt,!) ist auf die „Bezeichnungen nur sehr
bedingter Wert zu legen. Es ist kaum anzunehmen, daß sie von den Malern selbst
herrühren. Sie sind wohl von späteren Kennern hinzugesetzt worden. Das war in
China ebenso wie in Japan ganz allgemein üblich und geschah ursprünglich nicht
in böser Absicht. Daß man es mit eigenhändigen Signierungen des Künstlers zu
tun hat, kann man im Falle der ostasiatischen Malerei eigentlich nur dann an-
nehmen, wenn der Pedigree des Werkes bis zur Zeit des Künstlers, ia bis zum
Künstler selbst zurückzuvertolgen ist“.
In China gibt es viele Bücher über Künstler und Kunstwerke voller Namen,
Daten und Anekdoten, aber es fehlen bis zum späten Mittelalter nicht nur Originale,
sondern auch zeitgenössische Abbildungen, nach denen man wenigstens den Stil
der Künstler einwandfrei feststellen könnte. „Solche Zuschreibungen,“ führt William
Cohn weiter aus, „sollen selbstverständlich nur die ungefähre Stilrichtung angeben
und haben allein in diesem Sinne Wert. Unsere Kenntnis chinesischer Künstler-
persönlichkeiten ist ja noch so außerordentlich lückenhaft, daß wir höchstens die
Umrisse dieser oder jener Gestalt ahnen können.“ Von den Werken selbst berühmtester
Meister des Ostens „können wir uns kaum eine Vorstellung machen“.
Wer den Wandel in der Wertschätzung und bei den Zuschreibungen der Öl-
malereien in den Museen Europas, trotz einer jahrhundertalten Wissenschaft, während
der letzten Jahrzehnte verfolgt hat, wird es verstehen, daß die Künstlernamen bei
den niemals öffentlich zum Vergleich ausgestellten Bildrollen aus chinesischem und
1) W. Cohn, Malerei in der ostasiatischen Kunstabteilung der Berliner Museen.
Cicerone 1910, Heft 23, S. 4.