134
Denn mag sie nun vom Himmel kommen oder von der
Erde ausgehen, keine Institution, kein Gesetz sollte gut
geheissen und geduldet werden, wenn dadurch nicht der
Gesamtheit Nutzen und Vorteil erwächst, wenn dadurch
nicht das beste aller denkbaren Ziele gefördert wird,
nämlich die Erziehung der Seelen und die Besserung der
Geister, auf dass sie für die menschliche Gesellschaft
notwendige und nützliche Früchte bringen. Und fürwahr,
das muss eine göttliche Sache, die Kunst der Künste
und die Wissenschaft der Wissenschaften sein, die
Menschen, welche vor allen Geschöpfen sich durch ver
schiedenste Bildung, verschiedenstes Temperament, ver
schiedenste Sitten und Neigungen, durch die vielseitigsten
Bestrebungen und unbeständigsten Begierden auszeichnen,
zu lenken und zu zügeln. 1 )
Aber wehe! Sofia, dass es dahin gekommen ist -
wer hätte jemals so etwas für möglich gehalten! —
dass gerade eine solche Religion sich heutzutage vor
wiegend der Verehrung erfreut, welche für nichtig, für
unnütz oder gar für einen Irrtum hält das gute Werk,
dass es Menschen giebt, die sich zu der Behauptung ver-
steigen, die Götter kümmerten sich nicht um die guten
Werke, und die Menschen würden nimmermehr gerecht
durch gute Werke, wie gross dieselben auch sein
möchten. 2 )
Sofia: Fast möchte ich zu träumen glauben, o Saulin, und
meinen, es sei nur eine Einbildung meiner verwirrten
Fantasie und nichts wirkliches, was Du mir da mitteilst!
Und dennoch ist es wahr; es finden sich solche, die dies
behaupten und den elenden Mob glauben machen wollen. *)
*) In demselben Sinne sagt das Corpus juris, L 1, § 1, de justitia
et jure J. 2.
..Jus est ars boni et aequi; cujus merito quis nos sacerdotes
appellet, justitiam namque colimus et boni et aequi notitiam
profitemur, aequum ab iniquo separantes, bonos non solum metu
poenarum, verum etiam praemiorum quoque exhortatione efficere
cupientes, veram nisi fallor, philosophiam, non simul
atam affectantes.“
2 ) Siehe Note 1, Seite 4b.