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Anfang an gefällt, immer gefallen, und es ist nicht ihre
Schuld, sondern des anderen Schuld, wenn dieser jemals
aufhört, sie lieh zu haben. Dagegen wird das affektierte
Wesen der Prahlerei, welche zu gefallen pflegt, weil sie
vorgiebt, mehr zu besitzen, als sie besitzt, sobald man
sie erst näher kennen lernt, nicht nur leicht Missfallen
erregen, sondern oft sogar obendrein noch Verachtung.
Ebenso wird die Verstellung, weil sie für etwas anderes
erkannt wird, als für was sie sich zuerst ausgeben wollte,
nicht unschwer sich den Hass desjenigen zuziehen, dem
sie anfangs angenehm erschien. Von den beiden letzteren
wurde also die eine so gut wie die andere für unwürdig
erkannt, im Himmel und mit jener, die sich in ihrer
Mitte zu halten pflegt, vereint zu sein. Doch nicht so
auch jene Verstellung, deren sich nicht selten selbst
die Götter bedienen müssen, um manchmal den Neid,
die Verläumdung und Kränkung zu meiden, sie, mit
deren Gewändern Klugheit die Wahrheit zu umhüllen pflegt.
Saulin: Es ist wahr, o Sofia, und wol nicht ohne Verständnis
für diese Wahrheit behauptet der Dichter von Ferrara,
dass diese Verstellung für die Menschen noch viel häufiger
angebracht ist, wenn sie manchmal sogar nicht einmal
zu vermeiden ist für die Götter:
„Ist Verstellung auch zumeist zu tadeln und zu scheiten,
Als Zeichen schlechten Kerns und niedriger Gesinnung,
Doch sind auch solche Fälle nicht gar selten,
Wo sie im Dienste steht der Heilsgewinnung.
Verläumdung, Schaden und oft selbst den Tod
Vermag uns nur Verstellung abzuwehren
In dieses Erdenjammerthaies Not,
Wo wir mit Freunden selten nur verkehren,
Wo bei des Lebens Finsternis und Leid
Ein wenig heit're Luft uns schon missgönnt der Neid.“ *)
Aber ich möchte wissen, Sofia, in welchem Sinne Du
meinst, dass Einfalt Ähnlichkeit mit dem Angesicht
Gottes habe ?“
x ) Citat aus Tasso’s Sonetten.