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B. Die Ergebnisse der astrophysikalischen Forschung
daß die Grenzschicht in einer Tiefe liegt, in der durch den starken Druck
der Gase das Emissionsspektrum aus dem ursprünglichen in ein kontinuier
liches Spektrum umge\Vandelt sei. Es scheint diese Annahme nicht einmal
erforderlich zu sein, da nach dem KmcHHOFFSchen Satze eine unendlich
bzw. sehr dicke Gasschicht bereits die Strahlung eines schwarzen Körpers,
also ein kontinuierliches Spektrum liefert.
Die Protuberanzen sollen durch Unstetigkeiten in den Schichten entstehen,
durch Schlieren, welche Verzerrungen im regelmäßigen Erscheinen des Ran
des erzeugen. Schmidt unterscheidet hier zwischen roten Protuberanzen,
die ihrem Lichte nach genau der Chromosphäre entsprechen, und zwischen
weißen, die schließlich ein kontinuierliches Spektrum erzeugen. Die Unregel
mäßigkeiten der Photosphäre selbst, wie Granulation und Flecken, werden
in ähnlicher Weise unter Hinzuziehung absorbierender Gasmassen erklärt.
Nach dem Vorstehenden konnte Schmidt seine Hypothese in folgenden
drei Sätzen formulieren:
1. Die Sonne ist ein unbegrenzter Himmelskörper; es gibt insbesondere
keine Grenzfläche zwischen einem Sonnenkörper und einer Sonnenatmosphäre.
2. Der Rand der Sonnenscheibe ist das Produkt regelmäßiger Strahlen
brechung in einer Atmosphäre, deren Dichte im scheinbaren Grenzgebiet
weit geringer ist als die Dichte der Luft an der Erdoberfläche.
3. Die Sonnenfackeln und die Protuberanzen sind Produkte unregel
mäßiger Strahlenbrechung. Das Licht der letzteren stammt aus einem Ge
biet der Sonne, welches hinter dem Orte der scheinbaren Grenze liegt.
Zu der Schmidt sehen Theorie wäre das Folgende zu bemerken:
Auch das mathematisch unanfechtbare Erklärungsprinzip der Photosphäre
erscheint allen denen, die sich mit dem praktischen Studium der Sonnen
vorgänge befaßt haben, wenig plausibel; bei Betrachtung der oft sehr stetig
verlaufenden Vorgänge auf der Sonne (Bewegung der Flecken, Entwicklung
der Protuberanzen usw.) ist es sehr schwer, sich an den Gedanken zu ge
wöhnen, daß alles, was man sieht, gar nicht reell vor sich geht, und daß
die Ursache einer Erscheinung nicht da, wo sie auftritt, zu suchen ist, son
dern ganz wo anders, auf der anderen Seite der Sonne, oder gar an einer
Stelle, von wo aus der Lichtstrahl schon einmal ganz um die Sonne herum
gelaufen ist. Alle visuellen wie spektroskopischen Beobachtungen lassen
ferner den Schluß zu, daß in der Sonnenatmosphäre gewaltige Umwälzun
gen durch Konvektionsströme u. dgl. stattfinden. Dadurch müßten ohne
Frage Refraktionsanomalien in die Erscheinung treten, die sich als Unregel
mäßigkeiten des Sonnenrandes bemerkbar machen würden. Auf das schwerste
Bedenken aber muß noch besonders aufmerksam gemacht werden. An der
Ursprungsstelle des Lichtes soll die Dichtigkeit der Gase so stark sein, daß
sie ein kontinuierliches Spektrum geben, und doch soll der Lichtstrahl durch
diese Gase Hunderttausende von Kilometern zurücklegen, ohne absorbiert
worden zu sein. Es ist wohl denkbar, daß es Himmelskörper gibt, für die
die Theorie passend ist; bei der Sonne aber ist das sicher nicht der Fall.
So mag es denn auch kommen, daß die Schmidt sehe Hypothese unter den
Physikern vielleicht Anhänger besitzt, unter den Astronomen aber, die die
Sonnenerscheinungen selbst kennen, nur verschwindend wenige.