Full text: Neues Lehrbuch der Perspektive

graphischem Gebiete ein gewaltiger Fortschritt gegen 
früher zu bemerken. 
Anstelle der früheren einfachen Objektive sind 
jetzt Holostigmate, Aristostigmate, Orthostigmate, 
Anastigmate, sechslinsige Universal- und Doppelanas- 
tigmate, siehe Fig. 239, mit Bildwinkel von 80—100° 
im Gebrauche. Diese letzteren besitzen Linsen aus 
optisch beinahe farblosem Crownglase, das im Ver 
hältnisse zu anderen Glasarten die erhöhte Eigen 
schaft besitzt, weniger Licht zu absorbieren, das 
Bild daher plastischer und mit mehr Lichtglanz in 
den Schattenmassen herstellen zu können. 
Nach der Erfindung der sogenannten Trocken 
platten, die ein weit bequemeres Arbeiten gegen die 
früher gebräuchlichen, stets erst vor der Aufnahme 
frisch herzustellenden lichtempfindlichen Platten er 
möglichen, wurden die außerordentlich rasch arbei 
tenden Schlitzverschlußkameras erfunden, dann die 
neueren Spiegel-Reflex-Kameras u. s. w. Endlich 
wurde das positive Herstellen der Bilder mit dem 
hochentwickelten photographischen Pigment verfahren 
(Kohledruck) eingeführt. 
In der perspektivischen Zeichenkunst wurde die 
Photographie früher sehr selten verwendet, erst in 
neuerer Zeit bedient man sich ihrer mehr, besonders 
im Meßbildverfahren. Perspektive und Photographie 
sind viel enger verwandt, als man gewöhnlich an 
nimmt; denn alle photographischen Darstellungen 
bestehen einzig und allein nur aus Perspektiven. 
Es ist deshalb auch für einen Photographen von 
Wert, wenn er sich mit der Perspektivkunst ein 
gehend beschäftigt. Dabei ist im nachfolgenden 
mehr auf die Amateur- und Liebhaber-Photographen, 
sowie auf diejenigen photographierenden Kunst 
beflissenen, die studienhalber photographische Re 
produktionen gewinnen wollen, Rücksicht genommen, 
als auf die Berufsphotographen. Diesen ist ein weit 
eingehenderes Studium an einer photographischen 
Lehranstalt oder Akademie zu empfehlen. 
Das direkte Studium der Perspektive wird den 
Photographierenden befähigen, sowohl seinen Werken 
eine perspektivisch richtige und gute Linienführung 
zu verleihen, als auch in der Rekonstruktion und 
dem Meßbildverfahren allen Anforderungen gerecht 
zu werden. Die Photographie gibt allerdings die 
vor dem Apparate befindlichen Objekte ohne hand 
zeichnerisches Zutun des Photographierenden wieder, 
und doch kommen dabei ohne dessen perspektivische 
Geschicklichkeit sehr leicht Fehler vor, weil es nicht 
gleichgültig ist, wie und wo der Apparat seine 
Stellung zum Objekte einnimmt. 
Bei den beweglichen Objekten ist es deren Zu 
sammenfassen, das für ein günstiges Bild durchaus 
notwendig ist; sei es in den Gruppierungen, den 
Stellungen und Ueberschneidungen, den perspek 
tivischen Verkürzungen oder Vergrößerungen. Es 
spielen weiter die Entfernungen, in denen ein Bild 
aufgenommen werden soll, die Dimensionen und 
Tonwerte der Objekte und die Harmonie der Formen 
im Bilde eine gewichtige Rolle. Als Beispiel denke 
man sich eine Gruppenaufnahme im Garten vor 
einer Säulenhalle, die aus zu kurzer Entfernung 
aufgenommen wurde, was oft genug dann vorkommt, 
wenn nur ein Weit-Winkel-Aplanat zur Verfügung 
steht. Ein solches Bild muß unter allen Umständen 
ungünstig wirken, da, besonders bei älteren Aplanaten, 
die Säulenhalle durch den kurzen Abstand seitlich 
nicht mehr gerade, sondern gebogen erscheinen wird 
und die betreffenden Säulen auch durch sonstige 
Verzerrungen plump und kaum mehr naturähnlich 
aussehen werden. Die nach vorn gestreckten Glied 
maßen der im Vordergründe befindlichen Personen 
werden durch die verstärkte perspektivische Wirkung 
unverhältnismäßig vergrößert. Weiter zurückstehende 
Personen dagegen werden übermäßig verkleinert er 
scheinen, mit viel kleineren Köpfen und niedrigeren 
Stirnen, alsihre Größenverhältnisse inWirklichkeit auf 
weisen. Die photographische Perspektive liefert wie 
die konstruktive Perspektive nur objektive Anschau 
ungsbilder. Da nun bei der photographischen Auf 
nahme, genau so wie bei der perspektivischen Kon 
struktion, gleiche Zylinder nach den Seiten zu breiter 
erscheinen, so ist diese Tatsache beim Photogra 
phieren sehr wohl zu beachten. Es dürfen deshalb 
Personen nicht zu sehr nach der Seite zu gestellt 
werden, weil sie sonst auf dem Bilde breiter er 
scheinen müssen, als wenn sie weiter nach der Mitte 
des Bildes einen Platz gefunden hätten. Dasselbe 
gilt für die seitwärts befindliche Kugel; daher ist 
beim Photographieren hinsichtlich der Köpfe der 
zu Photographierenden acht zu geben. Der seit 
wärts im Bilde befindliche Kopf erscheint etwas 
in die Breite gezogen, ein dem oberen Rande naher 
Kopf wird im Bilde wieder in die Länge gezogen 
erscheinen, besonders bei einem Hochformate. Die 
unglücklichste Form muß daher bei kurzer Brenn 
weite ein in der oberen Ecke eines Bildes dar 
gestellter Kopf oder runder Körper annehmen, weil 
er dann seitlich schief verzogen auf der Photographie 
dargestellt wird. 
Diese Verzerrungen nennt man in der Photo 
graphie die Weitwinkel-Verzerrungen. Sie werden 
vermieden durch weitere Brennweite; bei der kon 
struktiven Perspektive durch größeren Augenabstand 
von der Bildebene und demnach in der photo 
graphischen Kunst auch durch geeignete Entfernung 
vom Objekte. Dadurch gewinnt nicht nur die Ueber- 
sichtlichkeit, sondern es werden auch die seitlichen, 
oberen und unteren Verbiegungen der Linien und 
Formen abgeschwächt. Es sei noch darauf hinge 
wiesen, daß es zweckmäßig ist, zum Ausgleiche der 
geraden Bildebene, also der geraden Platte, bei 
größeren Gruppenaufnahmen die Objekte im Halb 
kreise um den Apparat zu stellen und ein allzu 
hohes Uebereinanderstellen (stufenartige Gruppen 
aufnahme) bei Hochformatform zu vermeiden, damit 
die oberen Reihen nicht unter der perspektivisch 
verkleinernden Wirkung zu leiden haben. 
Diese verkleinernde Wirkung kann bei geschickt er 
Benutzung auch eine gute Seite haben. Bei Auf 
nahme sehr dicker Personen oder umfangreicher 
Gegenstände benutzt man den großen Bild- oder 
Gesichtswinkel, um sie schlanker erscheinen zu
	        
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