Full text: Neues Lehrbuch der Perspektive

eichnen, dieses Wort faßt den Begriff 
einer Darstellungsweise in sich zu 
sammen, aus der der Beschauer die 
körperliche Form eines Objektes in 
Linienwiedergabe ersehen kann. Die 
Kunst zu zeichnen, die ebenso viel 
Bedeutung für die gesamte Mensch 
heit besitzt, wie das Schreiben, sollte 
ebenso wie dieses nach klaren und 
bestimmten Regeln und Uebungen erfolgen; doch 
gibt es nur verhältnismäßig wenig Leute, die wirk 
lich richtig zeichnen können. Das Zeichnen ist 
eine Formensprache und kann nur wie die Sprache 
selber bei stetiger Uebung weiter ausgebildet werden. 
Wer die Sprache beherrschen will, muß deklinieren 
können, sich einen Vokabelschatz aneignen und die 
Satzbildung erlernen. So auch beim Zeichnen; man 
muß einen gewissen Reichtum an Formen dem Ge 
dächtnisse einprägen. Ferner bedarf es natürlich 
einer Gewandtheit und Sicherheit; deshalb müssen 
die Uebungen anhaltend und mannigfaltig sein. Die 
modernen Methoden verdienen durch den reich 
haltigen Uebungsstoff und die große Auswahl der 
Techniken einen besonderen Vorzug gegen früher. 
Nach eingehenden Studien, die mit der linearen 
und Flächenausführung beginnen, läßt sich sogar 
bald eine farbige Darstellung mit Sicherheit in der 
Angabe der Tonwerte erreichen. Durch Betonung 
der Hauptformen und Flächen, sowie Ausarbeiten 
der Einzelheiten wird dem Gedächtnisse eine 
Formensprache geläufig, die es später ermöglicht, 
jeden Gegenstand der Umgebung frei nach dem 
Gedächtnisse zu zeichnen. Solches Zeichnen hebt 
durch die eingehende Beobachtung die Ausbil 
dung zu einer allgemeinen intellektuellen Bildungs 
stufe. 
Das Gedächtniszeichnen ist für die Perspektiv 
kunst von großer Bedeutung, weil nicht alle kleinsten 
Einzelheiten in einem Bilde konstruiert werden — 
das würde ja allzuviel Zeit in Anspruch nehmen 
und die Konstruktion zu sehr ins kleine führen. 
Hier muß die Zeichenkunst die Konstruktion er 
setzen, bez. ihr die Kleinarbeit abnehmen und sich 
daher auch eng an die Perspektive anschließen. 
Wenn das Zeichnen an und für sich nur einen 
Begriff der Darstellungsweise bedeutet, so liegt der 
Wert der Zeichenkunst darin, daß sie, genau wie 
die Perspektivkunst, die Zeichnung so zu fertigen 
versteht, daß der Beschauer einen möglichst guten 
und auch ähnlichen Eindruck gewinnt, wie durch 
den unmittelbaren Anblick des natürlichen Objektes; 
hierin liegt der Grundbegriff der perspektivischen 
Darstellungskunst. 
Die konstruktive Perspektive lehrt, geome 
trische Projektionen (Ansicht, Grundriß, Seitenriß, 
Schnitte etc.) in einer Darstellung zu vereinigen, 
aus der man die Objektsformen in Linienwiedergabe 
so sieht, wie sie dem Auge in ihrer Allgemeinheit 
erscheinen würde. 
an kann schon 
durch eine flüch 
tige Bleistiftskizze, 
siehe Fig. 32, eine 
ziemlich genaue 
Vorstellung von 
der perspektivi 
schen, also natür 
lichen Wirkung der 
Objekte erhalten. 
Z. B. Perspektiv 
skizzen von Außen 
architekturen, Innenräumen, Möbeln, kunstgewerb 
lichen Gegenständen, Illustrationsbildchen genügen 
meist schon, um den beabsichtigten Eindruck zu er 
reichen. Streng genommen sind diese Linienperspek 
tiven aber noch lange nicht von natürlicher Wirkung, 
denn die Natur weist keine Linienzeichnungen auf, 
vielmehr setzen sich an Stelle der Linien die Töne 
gegeneinander ab; also Schatten gegen Licht, dunkel 
gegen hell, und noch weit häufiger gehen die Töne 
verschmelzend ineinander über, wie man bei jeder 
natürlichen Schattierung beobachten kann. 
Um eine getreuere Naturähnlichkeit zu erlangen, 
will die Linienperspektive nur als Unterlage dienen; 
durch Tonabstufung, Schattierung und Farben 
wirkung aber erreicht die Perspektivkunst, daß sie 
die Objekte der wirklichen Erscheinung entsprechend 
vor Augen führt. Natürlich ist es ausgeschlossen und 
auch gar nicht Zweck eines Perspektivbildes, die ab 
solute Wirklichkeit genau wiederzugeben; mag auch 
ein Gemälde noch so fein durchgearbeitet sein, immer 
wird es nur als Bild, niemals als Natur gelten können. 
Wie die künstlerische Musik durch das Gehör 
nur seelische Eindrücke hervorzaubert, so darf man 
die perspektivische Zeichenkunst, wozu ja auch z. B. 
die Kunstmalerei gehört, nicht streng nach direkter 
Naturwahrheit beurteilen. Die Zeichenkunst soll auch 
nicht, wie vielfach angenommen wird, reine Natur 
nachahmungen schaffen, sondern Gefühl für edlere 
Schönheitsanschauung auslösen, dem Auge einen seel 
ischen Genuß bereiten. Beispielsweise wird der Roman 
fast nie die nüchterne Wirklichkeit schildern, sondern 
durch die persönliche Eigenart des Schriftstellers zu 
einem phantasievollen dichterischen Produkte werden. 
Eine perspektivische Darstellung wird auch 
dann zum Kunstwerke, wenn die schöpferische 
Phantasie des Künstlers in Linienführung, Licht 
und Farbe die strenge Nachahmung der Natur auf 
gibt und der freien Komposition nur die aus der 
Naturanschauung gewonnenen Regeln zu Grunde legt. 
Linienperspektive und Perspektivkunst sind 
nicht streng von einander geschieden, sondern es 
gibt da unendlich viele Zwischenstufen, man kann 
sagen, sie verschmelzen durch diese. Der einfachen 
Linienskizze folgt die Bleistift-, Kreide- und Kohlen 
zeichnung, dann die Federzeichnung mit mehr oder 
weniger Schattierung, die Pastellzeichnung u. s. f. 
bis zum Aquarell-, Pastell- und Temperagemälde 
und farbenprächtigen Oelbilde.
	        
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