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Die Essigsäure ist derjenige Bestandtheil des Essigs, wel
cher derselbe seine Eigentümlichkeit und seine Anwendung ver
dankt. Es ist deshalb notwendig, diese Säure hinsichtlich
ihrer chemischen und physikalischen Eigenschaften, so wie auch
in Bezug auf ihre Zusammensetzung erst einer näheren Betrach
tung zu unterziehen, der jedoch die Erklärung des chemischen
Processes der Umwandlung des Alkohols in Essigsäure voraus
gesendet werden muss.
Der chemische Process der Umwandlung des Alkohols
in Essigsäure.
Diese Umwandlung wurde bis vor Kurzem noch zu den
eigentlichen Gährprocessen gezählt, worunter man im Allgemei
nen jene Zersetzungen von zusammengesetzten organischen Kör
pern versteht, wobei sich ihre Bestandteile in Verhältnissen
ordnen und neue Verbindungen liefern, die vordem nicht vor
handen waren, ohne dass die atmosphärische Luft mit ihrem
Sauerstoffgehalte wesentlichen Anteil daran nehmen muss. So
entstehen aus dem Zucker durch den Gährprocess Alkohol und
kohlensaures Gas; aus Stickstoff haltenden organischen Körperu
entsteht durch die faulige Gährung Ammoniak.
Die Umwandlung des Alkohols in Essigsäure geht aber nur
unter Mitwirkung des Sauerstoffes vor sich, und obwohl wir
neuerer Zeit Mittel und Wege kennen gelernt haben, dieselbe
durch gewisse hochoxydirte Körper zu bewirken, z. B. mittelst
Braunstein, nach Rogers mittelst Chromsäure aus doppelt
chromsaurem Kali durch Schwefelsäure ausgeschieden (D i n g-
ler's polyt. Journal, Bd. 103., S. 158), so ist es doch allein
der atmosphärische Sauerstoff, welcher im Grossen bei diesem
Processe dazu verwendet wird und mit ökonomischem Vortheile
dazu benützt werden kann.
In diesem Anbetrachte ist die Umwandlung des Alkohols
in Essigsäure ein Oxydationsprocess, die gewöhnliche Essigbil
dung ist nach L i e b i g eine Verwesung des Alkohols, bedingt
durch die Berührung alkoholhaltiger Flüssigkeiten mit der at
mosphärischen Luft unter den dazu günstigen Umständen.
Bei dieser Oxydation des Alkohols während seines Ueber-
Balling's Gährnngscliemio. IV. 11