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Einleitung.
Tatsachen: a) daß ein Wasserstoffatom der Essigsäure anders
Eigenschaften besitzt als die drei anderen (leicht gegen Metalle
ersetzbar ist); b) daß die zwei Sauerstoffatome sich verschieden
verhalten, verschieden leicht gegen andere Elemente oder Atom
gruppen austauschbar sind; c) daß den zwei Kohlenstoffatomen
verschiedene Funktionen zukommen, derart, daß das eine (schon
mit den zwei Sauerstoffatomen verbundene) leicht Kohlensäure,
das andere (mit drei Wasserstoffatomen verbundene) leicht Me
than, CH 4 , oder Methylverbindungen bildet.
In Anbetracht der unzähligen beobachteten Isomeriefälle ist
eine empirische Formel zur Bezeichnung einer organischen Ver
bindung meist nicht ausreichend; oft gibt erst die Konstitutions
formel ein klares Bild ihres Verhaltens und ihrer Beziehungen
zu anderen Substanzen. Auf Grund eingehendsten Studiums ist
es in den letzten Jahrzehnten für die meisten organischen Ver
bindungen möglich geworden, die Bindungsweise der Atome in
ihrem Molekül zu ermitteln, und dadurch sind vielfach neue
Vv ege zu ihrer Darstellung erschlossen worden. Die ermittelten
Konstitutionsformeln sind teils sehr einfacher, teils aber auch
sehr komplizierter Natur, wie z. B. jene der Citronensäure (siehe
Kap. XI, B) oder des Traubenzuckers (s. Kap. XIV, ©) zeigen.
Es sind auch Körper bekannt, die, ohne selbst in zwei Formen
zu existieren, zwei Reihen von Derivaten bilden, so daß denselben
nach ihren Reaktionsprodukten zwei verschiedene Konstitutionsformeln
beigelegt werden müssen. Derartige Formeln hat man als tautomer
bezeichnet und angenommen, daß die Ausgangssubstanzen, in freiem
Zustande, nur nach einer Formel konstituiert, existieren können. Neuer
dings ist es aber mehrfach gelungen, auch die ursprünglichen Sub
stanzen in zwei, den verschiedenen Konstitutionsformeln der Derivate
entsprechenden Modifikationen zu isolieren; die Tautomerie geht dann
/ in eine besondere Art von Strukturisomerie, die „Desmotropie 1 *, über,
welche durch leichte wechselseitige Umwandlung der beiden Isomeren
ineinander charakterisiert ist. Näheres siehe bei den einbasischen
Ketonsäuren (Kap. IX, J) und Cyanverbindungen (Kap. XII, F), sowie
A. 313, 129.