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Offenbar machen diese Doppelvalenzen die Beobachtung verständlich,
daß sich die Wertigkeit so häufig nach ganzen Zahlen ändert. Alle Schwierig
keiten, die der bisherigen Darstellungsweise der Valenzlehre anhaften, lassen
sich aber mit Hilfe der vorgeschlagenen Anschauung nicht beheben. So z. B.
scheint die natürliche Annahme nicht durchführbar zu sein, daß eine ge-
gegebene Valenzstelle immer dieselbe Ladung besitzt und nicht bald positive,
bald negative. Bezüglich der Moleküle H 2 , N 2 und 0 2 kann man z. B. kaum
eine andere Annahme machen, als daß das eine Atom positiv, das andere
negativ geladen ist.
Die wechselnde Valenz stellt man sich nach der Elektronentheorie so
vor, daß ein ein-, zwei- oder dreiwertiges negatives Ion aus einer Verbindung
des betreffenden Atoms oder Atomkomplexes mit ein, zwei oder drei Elek
tronen besteht, die alle negativ sind. Ein positives Ion entsteht aus dem
betreffenden Atom oder Komplex durch Abspaltung der nötigen Zahl von
Elektronen. (Vgl. Kap. 8). Diese Auffassung ist bisher rein formell ge
blieben und hat zu keinen neuen Folgerungen geführt.
Die Valenzlehre fand ihre Bestätigung durch die Regelmäßigkeiten,
die in dem Mendele jeffschen System zutage treten (Vgl. Kap. 8). Die
Körper in der ersten Vertikalreihe haben keine Valenz, diejenigen in der
zweiten sind einwertig, in der dritten zweiwertig usw. Danach kann es
keinem Zweifel unterliegen, daß Kohlenstoff vier Hauptvalenzen besitzt,
obgleich die elektrolytische Probe, die nach Werners Definition den Aus
schlag gibt, wohl niemals wird angestellt werden können, denn die Kohlen
stoff-Verbindungen leiten die Elektrizität zu wenig. In derselben Weise wird
auch bei anderen Elementen, die nicht als Ionen bekannt sind, die Anzahl
der (Haupt-) Valenzen bestimmt.
Wenn man den Elementen eine sehr große Zahl Valenzen erteilen
wollte, könnte man offenbar alle möglichen Atomkombinationen mit Valenzen
erklären. Aber dadurch würde die Übersichtlichkeit und damit der Nutzen
der Valenzlehre vollkommen verloren gehen. Es ist daher erklärlich, daß
man die Zahl der Valenzen nach Möglichkeit zu beschränken sucht. So hat
man dem Wasserstoff immer die Valenzzahl 1 erteilt, weil es möglich ist,
mit dieser Zahl auszukommen. Gegen dieses Fundament der Valenzlehre
verstößt Werner, indem er annimmt, daß im Ammoniumion ein Wasser
stof fatom gleichzeitig mit einer Nebenvalenz an NH 3 gebunden ist und eine
Hauptvalenz frei hat, mit der es ein negatives Ion binden kann. Auch
Ab egg nimmt — nicht weniger als sieben — Kontravalenzen beim Wasser
stoff an. Jedes Element hat nach ihm acht Valenzen. Ähnlich schränkt
auch Werner die Zahl der Nebenvalenzen ein, indem er eine maximale
Koordinationszahl 6 annimmt. Diese Zahl findet sich beispielsweise in den