Full text: Theorien der Chemie

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zu Ende gehen, und nicht unvollendet stehen bleiben. Diese Anschauung 
ist auch die Grundlage der thermochemischen Systeme, unter denen das 
von Berthelot das am meisten ausgearbeitete ist. Nach Thomsen und 
Berthelot tritt unter einer Anzahl denkbarer chemischer Umsetzungen 
stets die ein, die mit der größten Wärmeentwicklung verknüpft ist. 
Der französische Physikochemiker Berthollet war mehr als Berg- 
man (vgl. S. 48) von der Identität der chemischen Anziehung und der 
Schwerkraft überzeugt und wurde dadurch veranlaßt, den Begriff der 
„chemischen Masse“ einzuführen, wonach ein Körper auf einen anderen 
in um so höherem Grade einwirkt, je größere Mengen von dem einen 
sowohl wie von dem anderen sich an der Reaktion beteiligen. Wir finden 
in seinem Werke (1803) x ) die Idee auseinandergesetzt, daß viele Säuren, 
die gleichzeitig auf eine ungenügende Menge einer Base einwirken, sie 
unter sich verteilen, so daß jede sich mit einem Teil der Base ver 
bindet, der ihrer Affinität und relativen Menge entspricht. Es ist sehr 
zu bedauern, daß er das Äquivalentgewicht als ein Maß für den rezi 
proken Wert der Affinität ansah, statt eine experimentelle Bestimmung 
derselben zu versuchen. An Stelle dessen machte er die ganz falsche 
Hypothese, daß alle Säuren gleich stark sind, wenn sie in äquivalenten 
Mengen zugegen sind. Berthollet betrachtete alle Reaktionen als un 
vollständig und führte den Begriff des „chemischen Gleichgewichtes“ ein. 
Für das Gleichgewicht in einer Lösung ist es von großer Bedeutung, ob 
einer der reagierenden Stoffe sich leicht in gasförmigem oder festem 
Zustand aus der Lösung abscheidet. Die abgeschiedenen Anteile haben 
keinen Einfluß auf das Gleichgewicht. 
Die Chemiker, die Berthollet nachfolgten, waren in theoretischer 
Denkweise nicht genügend geschult, um seine glänzenden Ideen zu verstehen 
und weiter zu entwickeln. Doch wirkte Berthollets Zeitgenosse Gay- 
Lussac in derselben Richtung wie er; er nahm an, daß zwei oder mehr 
Salze zusammen in Wasser gelöst gleichzeitig alle möglichen Salze bilden, 
die durch doppelte Zerlegung aus dem ursprünglichen Salzpaar entstehen 
können. 
Auch Rose ließ sich von dem allgemeinen Gedankengange seiner 
Zeit nicht leiten, sondern hielt an dem Gedanken einer Massenwirkung 
fest. Er fand, daß die Lösung eines Sulfids freien Schwefelwasserstoff 
enthält, der durch Kochen entfernt werden kann. Er zeigte auch, daß 
die Menge des freien Schwefelwasserstoffes mit der Menge des lösenden 
x ) Berthollet, Untersuchungen über die Gesetze der Verwandtschaft. 
Ostwalds Klassiker No. 74.
	        
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