Bevor eine Theorie aufgestellt ist, findet man gewöhnlich, daß eine
Hypothese benutzt wird, die sich später zu einer Theorie entwickeln kann.
Solch eine Hypothese war z. B. die Annahme, daß die elektromotorische
Kraft (proportional der Anzahl benutzter Zellen), die Triebkraft des elek
trischen Stromes ist, der als die Bewegung eines Stoffes durch die Leitungs
drähte betrachtet werden kann. (Zu Ohms Zeit wurden Wärme und Elek
trizität für Stoffe angesehen.) Auf diese Hypothese mußten sich alle Unter
suchungen vor Ohm gründen, die den Zusammenhang zwischen der Anzahl
wirkender Zellen und der Stromstärke zum Gegenstand hatten.
Ohm verwandelte diese etwas verschwommene und unvollkommene
Hypothese in ein Gesetz. Die quantitative Formulierung, d. h. die Auf
stellung einer durch eine Formel ausgedrückten Beziehung zwischen
mehreren, quantitativ meßbaren Größen, ist das eigentliche Kennzeichen
eines Gesetzes oder einer Theorie. Das gilt natürlich nur für die so
genannten exakten Wissenschaften, die mit meßbaren Quantitäten zu tun
haben. Eine rein beschreibende Wissenschaft entwickelt sich in dem Maße
zu einer exakten, wie sie Theorien in diesem Sinne einführt, und gerade
die Entwicklung, die die Chemie im letzten Jahrhundert in dieser Richtung
genommen hat, kann als eine der besten Illustrationen unseres Satzes gelten.
Die Einführung statistischer Methoden in die Biologie, wie sie in
modernen physiologischen Untersuchungen über die Entwicklung lebender
Organismen geschehen ist, erlaubt die Aufstellung von Theorien auch in
diesen Gebieten der Wissenschaft. Das Wort Theorie wird in den bio
logischen Wissenschaften oft gleichbedeutend mit Hypothese gebraucht; das
hat aber mit unseren Betrachtungen über Theorien in den exakten Wissen
schaften nichts zu tun.
Das Hauptkennzeichen der Theorie ist, wie eben gesagt, ihre Be
ziehung auf Quantitäten. Daher müssen Meßinstrumente in Gebrauch sein,
ehe eine Theorie aufgestellt werden kann. Solch ein Instrument war bei
Ohms Theorie des elektrischen Stromes das eben von Schweigger kon
struierte Galvanometer.
Nach dieser Definition verdient die sogenannte Phlogiston-Theorie
nicht den Namen einer solchen, denn es gab kein Instrument, das dazu be
stimmt gewesen wäre, die Menge des Phlogistons zu messen, das sich mit
den Metallkalken (-Oxyden) zu Metallen verbinden sollte. Es war nur eine
Hypothese, die sich zu einer Theorie hätte entwickeln können, wenn jemand
den Begriff des Phlogistons klar herausgearbeitet und dieses gemessen
hätte. So wäre es z. B. möglich gewesen, die Menge Phlogiston, die bei
der Oxydation eines Metalls entstehen sollte, mit der Wärmemenge gleich
zu setzen, die sich während dieses Vorganges entwickelt, und sie kalori-
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