4
metrisch zu messen. (Tatsächlich entspricht die alte Vorstellung des Phlo-
gistons sehr nahe der Wärmemenge.) Aber statt des Kalorimeters benutzte
Lavoisier die Wage, um die Erscheinung der Kalzination zu verfolgen,
und fand, daß genau soviel Sauerstoff während der Kalzination eines
Metalls verschwindet, als das Metall an Gewicht zunimmt. Er wandte Zinn,
Blei und Quecksilber an.
Er begründete deshalb die Theorie, daß die Kalzination in einer Ver
bindung des Metalls mit Sauerstoff besteht, und bewies seine Theorie mit
quantitativen Messungen. Mit dieser Theorie stimmte die alte Phlogiston-
Hypothese, der jede quantitative Grundlage fehlte, nicht überein, und wurde
deshalb verlassen.
Wie alle andere Wissenschaften ist die Chemie ursprünglich aus der
Erforschung von Problemen aus der Praxis entstanden. Die Untersuchungen
von Lavoisier über die Verbrennung, welche zu seiner Oxydationstheorie
führten, wurden infolge einer öffentlich ausgeschriebenen Konkurrenz
betreffs der besten Methode zur Beleuchtung der Stadt Paris angestellt.
In seinen wissenschaftlichen Werken, erwähnt Le Chatelier, findet man nie
eine Angabe über den Ursprung seiner Ideen, in seinen industriellen
Notizen wimmelt es dagegen von Andeutungen über wissenschaftliche Unter
suchungen, die ihm geeignet schienen, technische Schwierigkeiten zu heben. 1 )
Die quantitative Benutzung der Wage ergab später die Atomtheorie
von Dal ton, deren Hauptkennzeichen das Gesetz der multiplen Proportionen
ist. Diese Theorie war die Entwicklung der Atomhypothese von Demo-
kritos, die der Wissenschaft schon etwa 2300 Jahre bekannt gewesen war.
Wie wir gesehen haben, haben Theorien eine höchst wichtige prak
tische Seite für die Ökonomie der experimentellen Arbeit. Die Arbeit
eines Experimentators, der ohne den leitenden Einfluß einer Theorie die
Beziehung zweier Faktoren zu finden sucht, die von Einfluß auf eine Er
scheinung sind, läßt sich mit der Arbeit eines Ingenieurs vergleichen, der
zwei Städte, die auf den entgegengesetzten Seiten einer Bergkette liegen,
durch einen Tunnel miteinander verbinden will, und der den ganzen Berg
abträgt, um sicher zu sein, die kürzeste und bequemste Verbindung zu
finden. Der wissenschaftliche Arbeiter, der eine Theorie benutzt, bildet
sich eine Meinung, welches der beste Weg zur Lös,ung des Problemes sei.
Er ist mit dem Ingenieur zu vergleichen, der durch vorhergehende Er
wägungen eine Ansicht über die relative Lage der zwei Städte und der
Bergkette gewonnen hat, und mit Hilfe seiner Instrumente die Richtung
angibt, in der zu beiden Seiten des Berges seine Arbeiter das Tunnelloch
0 Le Chatelier: Leçons sur le carbone S. 287 und 289. Paris 1908.