Full text: Theorien der Chemie

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keine Anziehung mehr ausübt. In der Physik haben wir einen ähnlichen Fall 
in der Anziehung zweier elektrisch geladener Körper. Wir nehmen einen 
Körper A an, geladen mit der positiven Elektrizitätsmenge a, der negativ 
geladene Körper B anzieht, von denen jeder die Elektrizitätsmenge b mit 
sich führen soll. Angenommen, einer dieser Körper B werde dem Körper A 
so weit genähert, daß ihre Ladungen einander dicht benachbart sind, so 
wird der Komplex A -j- B auf negative Körper eine Anziehung von der Größe 
ausüben, als ob er die positive Ladung a—b trüge. Er wird weitere negative 
Körper B anziehen und sich mit ihnen vereinigen, bis eine Verbindung A + nB 
entstanden ist, die elektrisch neutral ist, indem nämlich die Ladung a von A mit 
entgegengesetztem Zeichen gleich der Ladung nb der n Körper B ist. Wenn 
wir diese Analogie auf chemische Verbindungen anwenden wollen, von denen 
wir wissen, daß sie elektrisch neutral sind (soweit sie nicht künstlich elek 
trisiert sind), so kommen wir zu dem Schluß, daß in jedem Molekül eine 
oder mehrere Einheiten sowohl positiver wie negativer Elektrizität vor 
handen sind, und zwar derart, daß die Anzahl positiv elektrischer Einheiten, 
die mit den positiv geladenen Atomen der Verbindung verbunden sind, genau 
gleich der Anzahl negativer elektrischer Einheiten ist, die mit den negativ 
elektrisierten Atomen derselben Verbindung vereinigt sind. Z. B. haben wir 
allen Grund anzunehmen, daß im Chlorwasserstoff-Molekül die Wasser 
stoffatome positiv geladen sind. Wenn wir die Ladung eines Wasserstoff 
atoms als Einheit wählen, dann muß das Chloratom mit derselben Einheit 
negativen Vorzeichens geladen sein. Wir müssen infolgedessen mit Helm 
holtz (in seiner Faraday-Vorlesung 1881) und J. J. Thomson 1 ) der Elek 
trizität eine atomare Konstitution ebenso wie der Materie zuschreiben. Die 
Elektrizität kennt jedoch nur zwei Arten Atome, positive und negative, alle 
von derselben Größe. So entwickelt sich bei uns die Auffassung, daß die 
Kräfte, die die Atome im Molekül Zusammenhalten, mit elektrischen Kräften 
sehr nahe verwandt sind, eine Auffassung, die oft bei den Chemikern vor 
geherrscht hat, die sich mit elektrischen Problemen beschäftigt haben. Die 
Entwicklung dieser Idee ist von hohem Interesse und wir wollen jetzt dazu 
schreiten, ihre Geschichte zu überblicken. * 2 ) 
In der Mitte des 18. Jahrhunderts waren die auffallenden Erschei 
nungen, die von der Elektrisiermaschine ausgehen, der Gegenstand vieler 
Forschungen. Die merkwürdigsten waren die physiologischen Wirkungen, 
die von der Mehrzahl der Experimentatoren studiert wurden, aber auch fast 
alle chemischen Produkte jener Zeit wurden der Wirkung der Elektrizität 
x ) Vgl. J. J. Thomson, Elektrizität und Materie. Braunschweig 1904. 
2 ) Diese Geschichte findet sich ausführlich dargelegt in Ostwald; 
Elektrochemie, ihre Geschichte und Lehre. Leipzig 1896.
	        
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