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Frontansicht.
Satz la. Der Hauptpunkt soll in der ungefähren Mitte des Bildes
liegen.
Die zweite Bedingung hinsichtlich der Entfernung des Auges kann
so ausgedrückt werden:
Satz lb. Die Augdistanz soll gleich der l 1 / 2 -fachen bis 2-fachen
größeren Seite des Bildrechtecks sein.
Diese zwei Regeln sind indessen innerhalb gewisser Grenzen ziem
lich dehnbar.
Was zuerst die Lage des Hauptpunktes im Bilde
anlangt, so kann dieselbe von der genauen Mitte mehr oder weniger
abweichen. Es sind hierfür in erster Linie ästhetische Rücksichten maß
gebend, die sich auf die Natur des dargestellten Objektes beziehen.
Z. B. wird bei einem größeren Gebäudekomplex, der aus großer Höhe
— aus der Vogelperspektive — aufgenommen wird, der Hauptpunkt
höher gewählt werden. Dagegen wird man ihn bei einer Kirche mit
hohem Turme, die von der Straße aus gezeichnet wird, tiefer legen.
•— Bei einer Säulenhalle, die senkrecht zur Bildebene verläuft, würden,
falls man den Hauptpunkt genau in der Mitte annähme, die beiden
Säulenreihen rechts und links sich ganz symmetrisch darstellen, wo
durch das Bild einförmig würde. Man wird daher den Hauptpunkt
etwas nach der Seite rücken, so daß die eine Säulenreihe stärker
zusammengedrängt erscheint als die andere, was dem Bilde mehr
Abwechslung verleiht. — Bei Bildern mit lebhafter Handlung
(historischen Gemälden, Genrebildern) legt der Maler den Hauptpunkt
gerne an diejenige Stelle, wo die Haupthandlung vor sich geht, die also
den Blick des Beschauers zuerst auf sich zieht, so daß sich letzterer
unwillkürlich vor dieselbe stellen wird. — U. s. w.
Jedenfalls aber darf der Hauptpunkt niemals außerhalb des Bild
rahmens fallen. —
Was zweitens die Augdistanz anbetrifft, so verlangen Innen
räume im allgemeinen eine kleinere Augdistanz als Außenansichten.
Man ist gewohnt, einen Innenraum, in dem man steht, aus geringer
Entfernung zu betrachten. Wählt man daher bei Herstellung des Bildes
eine größere Augdistanz, so erhält man eine fremdartige Ansicht, während
bei einer kleineren Augdistanz der Beschauer gewissermaßen ins Innere
des Raumes hineinversetzt wird. Raffael hat bei seinen vatikanischen
Gemälden Augdistanzen gewählt, die nur gleich der einfachen
größten Ausdehnung des Bildes sind. Unter die einfache größere
Seite des Bildrechtecks darf man keinesfalls herabgehen.
Kleine Augdistanzen bewirken, namentlich an den Seiten rechts
und links, unnatürliche Bildformen der dargestellten Details. Man be
zeichnet diese als perspektivische Verzerrungen.
Andererseits darf die Augdistanz auch nicht zu groß gewählt
werden, weil dadurch der perspektivische Reiz verloren geht. Je größer
die Augdistanz angenommen wird, um so mehr nähert sich der Charakter
des erhaltenen Bildes demjenigen von geometrischen Aufrissen (vgl.
§ 11). —