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sinuslinigen, wie es sich in den älteren Ausgaben von Stielers Hand
atlas findet. Ich bin der Ansicht, dafs der Anfänger durch das letz
tere trotz seiner starken Winkelverzerrungen eine richtigere Vorstel
lung von der wahren Gestalt Amerika’s bekommt , als durch jenes.
Und will der Leser einen noch mehr überzeugenden Beweis dafür, was
eine conforme Projektion an Verunstaltung des Gesamtbildes leisten kann,
so betrachte er nur einmal das Bild Amerika’s in dem epicykloidischen
Gradnetze von August, vgl. die Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde
1874, Band IX S. 1 (vgl. Bildtafel 6); es wirkt geradezu abstofsend.
Der andere Punkt, auf den ich die ausübenden Kartographen aufmerk
sam machen möchte, ist der, dafs bei der Wahl einer Projektion auch
Rücksicht darauf genommen werden mufs, ob auch wohl der Anfänger
dadurch zu einer falschen Vorstellung über die Lage des Landes in
Bezug auf den Äquator oder den Pol verführt wird. Ich kann hier
aus eigener Erfahrung sprechen. Von früh auf habe ich eine grofse
Vorliebe für die Geographie und namentlich auch für das Kartenzeichnen
gehabt, und die erste Karte, die ich zeichnete, war die von Europa in Stielers
Atlas. Das Bild hat sich mir so lebhaft eingeprägt, dafs ich es noch jetzt
aus dem Kopfe nachzeichnen könnte. Aber ich habe dafür schwer
büfsen müssen. Es ist ja für den Anfänger so natürlich, dafs ihm
auf der Karte das Oben mit Nord, das Unten mit Süd, das Rechts
mit Ost und das Links mit West gleichbedeutend ist. Da lag nun
die Südspitze Grönlands auf derselben Höhe mit dem Nordkap, und
so hat sich bei mir lange Zeit die falsche Vorstellung erhalten, dafs
sie auf einer viel höheren Breite liege, als das in Wirklichkeit der
Fall ist. Vor etwa dreifsig Jahren sprach ich einmal darüber mit
Petermann, und unsere Unterredung hatte zur Folge, dafs in der neuen
Bearbeitung der Karte Europa’s in die nordwestliche Ecke statt der
Umrisse Grönlands der Titel gesetzt wurde. So wurde wenigstens der
falschen Vorstellung kein Vorschub mehr geleistet. Wie oft bin ich
dem Irrtume begegnet, dafs Lissabon nördlicher liege als Neapel, trotz
dem seine Breite reichlich zwei Grad geringer ist. Die falsche
Vorstellung beruht auf der Krümmung der Breitenparallele; die Karte
des Mittelländischen Meeres sollte immer in Seekartenprojektion ge
geben werden, damit seine grofse Achse durch eine gerade Linie dar
gestellt wird. Es giebt in der Geographie so manche Dinge, die nicht
in dem Lehrbuche ihren geeigneten Platz finden können, sondern dem
mündlichen Unterrichte Vorbehalten bleiben müssen; dazu gehört auch
die Besprechung der Gradnetze in Bezug auf ihren Einflufs auf die
Anschauung, die der Anfänger dadurch von der Lage der Orte auf
der Erdoberfläche erhält; nicht blofs auf die Flächen- oder Winkeltreue
ist Rücksicht zu nehmen. Wie leicht schleicht sich die Vorstellung