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Die Kartographie als Wissensehaft.
Ist es nicht ein lächerliches Beginnen, Kunst und Wissenschaft oder Kunst und Technik
in Widerspruch zu bringen. Die Phantasie ist die Mutter beider. Ist nicht der große
Denker zugleich ein großer Künstler. Sind nicht große Naturforscher zugleich große
Künstler. Man denke nur an A. v. Humboldt, Ch. Darwin, E. Haeckel u. a.m.
und dabei nicht an die manuellen Produkte, sondern an die Darstellung des Wissens
stoffes. Das Große und Weite wird erfaßt, geistvoll durchdrungen und in eine faßbare
Form gebracht. Das ist reines Kunstschaffen. Das war im Altertum so wie heute.
Und doch fängt der moderne Mensch an, sich langsam umzuwandeln und die Begriffe
der Schönheit und ästhetischen Befriedigung umzuprägen. Das Mittelalter konnte
sich an den schaurigen Märtyrerszenen der alten deutschen Meister nicht satt sehen,
heute haben sie mehr kunstgeschichtliches Interesse. Wir sprechen bei der Erklärung
eines Bildes von der prächtigen Earbenzusammenstellung, dem guten Faltenwurf, dem
gelungenen Gesichtsausdruck, wir sprechen heute aber auch von der schönen Linie
einer in Eisen konstruierten Brücke, von einem schönen Maschinensaal, von einer
schönen Stadt- und Parklage, von einer schönen Karte usw. Wollte man die Karte
selbst nicht als ein Produkt des Kunstkönnens gelten lassen, müßte man doch ein
räumen, daß sie ästhetischen Anforderungen in hohem Maße nachzukommen hat. Auf
letztere Seite ist bei Untersuchungen, selbst bei Kartenbesprechungen noch viel zu
wenig Gewicht gelegt worden, und doch ist das Kapitel Kartographie und Kunst,
überhaupt Geographie und Kunst, so wichtig, daß es schon längst einmal ein Verhand
lungsgegenstand bei einem internationalen oder heimischen geographischen Kongresse
hätte gewesen sein müssen. 1
Wie bereits näher ausgeführt wurde (§ 20), hält die Karte ein bestimmtes Erd
bild zur bestimmten Zeit fest. Das Fixieren eines bestimmten Momentes in der Er
scheinungen Flucht hat die praktische Kartographie mit den Künsten des Raumes ge
meinsam. Den Künsten der Zeit würde, falls ein Vergleich hier erlaubt ist, die be
schreibende Geographie entsprechen; denn sie verfährt sukzessive bei der Darlegung
ihres Stoffes und ihrer Begriffe. 1 2 Während jedoch die einzelnen Künste des Raumes
und der Zeit in ihrer spezifischen Art für sich bestehen, können es Kartographie und
beschreibende Erdkunde weit weniger.
Die Karte bedarf von Grund aus des erläuternden und belehrenden Wortes,
nicht allein für den Hersteller, sondern auch für den Benutzer. Wohl hat C. Vogel
beim Anblick von Schweizerkarten einmal geäußert, daß sie das Ideal seien, da sie
ohne erklärende Worte zu uns sprächen (S.66). Das ist jedoch nur ein Ausnahmefall.
Solange es Karten gibt, wird es auch Erklärungen dazu geben, und immer wieder wird
man in das Lesen der Karte eingeführt werden müssen. Ein ganz Schlauer kann mir
hier entgegenhalten, daß die neuern Kunstprodukte, wiedie des Impressionismus und
Expressionismus auch einer Erklärung, eines Impresarios bedürfen, infolgedessen sei
der Unterschied zwischen Karte und Kunst gar nicht so groß. Ist die Kartographie
1 Die Themata über diesen Gegenstand hängen in der Luft. Warum wird die Kartographie
auf den Deutschen Geographentagen immer so stiefmütterlich behandelt ? Warum behandelt man
nicht einmal Kartographie und Kunst ? Warum nicht Geographie und Kunst ? Hier würden J. Ponten
und E. Banse („Expressionismus und Geographie“) das richtige Wort gefunden haben. Denn
G.L.Kriegks Studie Über ästhetische Geographie, Leipzig 1840, ist längst vergessen. Der Geo
graphentag müßte allen geographischen Richtungen gerecht werden und Gelegenheit zur Aussprache
— die ja kurz bemessen sein kann — über neue Ergebnisse geben.
2 Vgl. das anregende Einleitungskapitel bei K. Jolig: Niederländische Einflüsse i. d. deutsch.
Kartographie bes. des 18. Jahrh. Diss. Leipzig 1903.