Die Bedeutung der Karte.
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auch eine imitative Kunst, wird sie doch weder zum Impressionismus werden, der die
Welt malt, wie sie gerade der betreffende Künstler sieht, noch zum Expressionismus,
der aus Farbe und Form Bilder sozusagen abstrakt, nach Art optischer Kontrapunktik
aufbaut. Meiner Meinung nach sind jene expressionistischen Erzeugnisse gar keine
Bilder in dem üblichen Sinne, sondern mehr künstlerische Experimente, die der Er
klärung bedürfen, da sie nicht selten den Nexus der Lage der Teile des Baumes ver
schieben oder (scheinbar) auf den Kopf stellen. „Auf dem Nexus der Lage der Teile des
Baumes beruht die ganze Geometrie“ und in weiterer Folge die gesamte Kartographie,
wie ich ein Wort von A. Schopenhauer ergänzen möchte. Wir kommen von dieser
geometrischen, der eigentlich wissenschaftlichen Grundlage der Karte nicht los. Das
ist aber auch der große Vorzug der Karte als eines wissenschaftlichen Hilfsmittels der
Geographie in künstlerischem Gewand. Sie bleibt immer an die darstellende Wirklich
keit, an eine wissenschaftliche Basis und einen wissenschaftlichen Aufbau gebunden.
So wird die Karte unbeschadet aller künstlerischen Aufmachung wahr und treu sein,
wie es das Ziel jeglicher wissenschaftlichen Arbeit sein soll. 1
30. Die kartographische Befähigung einzelner Völker. Wie jedes Volk seine Eigenart
besitzt und sie in vielseitigster Art und Weise zu betätigen sucht, läßt sich dies auch
in der Kartographie nachweisen, weniger auf dem Gebiet der topographischen Original
karte als vielmehr auf dem der chorographischen Karte. Ich kann hier nur auf Grund
sätzliches eingehen, die ausführlichere Behandlung dieses Gegenstandes würde einer
Geschichte der Kartographie angehören. Bei den topographischen Karten handelt
es sich um die Fixierung der mathematisch gewonnenen Vermessungsergebnisse. Da
ist wenig nach eigenem Ermessen zu gestalten, das Gerippe ist vorschriftsmäßig aus
zufüllen. Es werden sich demnach bei den kartographischen Ergebnissen der Landes
aufnahmen im allgemeinen nicht so schwer wiegende Differenzen ergeben, daß man von
einem besondern Kartentypus der einzelnen Völker sprechen könnte, wenn auch zuletzt
jeder Kenner das deutsche Aufnahmeblatt von dem österreichischen, italienischen
oder französischen sofort unterscheiden wird. Sie ähneln alle mehr oder weniger einander;
ihre Unterschiede treten meistens da hervor, wo die Landesnatur zu besondern Dar
stellungsweisen (Felszeichnung usw.) zwingt. Erst dort, wo die Originalkarten weiter
verarbeitet werden, treten die Charaktereigentümlichkeiten der einzelnen Völker in
der kartographischen Produktion entschieden hervor. An der Generalisierung sollt ihr
sie erkennen! Und das Generalisieren ist eine sehr schwere Arbeit, die nach C. Vogels
Urteil erst nach langjähriger Boutine erlernt werden kann.
Auf dem Gebiet der chorographischen Karten haben seit nahezu 100 Jahren die
Deutschen (einschließlich Deutsch-Österreicher und Deutsch-Schweizer) die Führung
an sich gebracht. Dem Deutschen ist von Haus aus eine große Gewissenhaftigkeit,
ein andauernder Fleiß und Pflichttreue auch im kleinsten eigen, welche Tugenden
sich in den deutschen Kartenwerken glänzend widerspiegeln. Dazu kommt das ihm
eigentümliche kosmopolitische Auffassen und Denken, also die Charaktereigenschaft,
sich schnell in die Wesensart anderer Völker und anderer Gegenden zu versetzen. 1 2
Darum war er bisher allein fähig, von der ganzen Erde Karten und Atlanten von großer
1 Eug. Oberhummer: Über Hochgebirgskarten. Vortrag auf d. VII. Internat. Geographen
kongreß Berlin 1899. II. Berlin 1901, S. 98.
2 Kein Volk hat soviel übersetzt und versteht Sinn und Ausdruck der „Stimmen der Völker“
(J. G. Herder) wie das deutsche.