Zur Geschichte der Kritik der Kartenprojektion.
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blicken wir die Studiengänge und wissenschaftlichen Ausbildungsmöglichkeiten in
den einzelnen Ländern, müssen wir zu unsrer größten Verwunderung feststellen, daß
die Projektionstheorie in den Lehrplänen des Auslandes viel schwächer vertreten ist
als auf deutschen Hochschulen, daß sie da kaum als Unterrichtsfach existiert,
geschweige die andern Zweige der Kartographie.
45. Die Projektionen für den Geographen nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck.
Insonderheit zwingen die neuern Kartenentwurfsbestrebungen den Geographen, sich
mit der Projektionstheorie zu befassen. Dabei ist aber wohl zu bedenken, daß
die Projektionen für den Geographen nicht Zweck, sondern nur Mittel zum Zweck
sind. Diesen Gesichtspunkt übersehen bisweilen diejenigen Gelehrten, die sich
lediglich von der Basis der Mathematik der geographischen Wissenschaft genähert
haben. Der Geograph hat sich mit der mathematisch kritischen Analyse der
Projektionen und der darauf begründeten Güte der Kartennetze vertraut zu machen,
er wird sich von ihr leiten, aber nicht beherrschen lassen; denn auch geographisch
kritische Momente sind bei der Wahl und Zeichnung der Projektionen zu berück
sichtigen, die man indes bei dem derzeitigen Vorherrschen der rein mathematischen
zu übersehen scheint, wie später noch eingehender ausgeführt werden soll.
Neben den rein kritischen Bedenken hat der Geograph noch ein bedeutendes
historisches Interesse an der Projektionslehre, da aus ihrer Entwicklung klärende
Lichtblicke auf die Fortschritte geographischer Erkenntnisse fallen.
Das Erdkartennetz an sich ist uralt und geht nahezu auf die ersten Landkarten-
versuche zurück. Die Geschichte des Erdkarteimetzes dagegen ist jung; M. d’Avezae
gab 1868 in seinem Coup d’œil historique sur la projection des cartes de géographie
einen geistreichen, heute aber schon teilweise veralteten Abriß der Geschichte der
Projektion, in dessen Randbemerkungen zugleich ein reicher Quellenschatz nieder
gelegt ist. Unter den neuen Historikern der Projektionstheorie verdient M. Fiorini
einen ehrenden Platz. H. Wagner hat in seinem bekannten Lehrbuch der Geographie
die Entwicklung der Projektionen wesentlich unter historischer Lupe gesehen. Auch
W. Wolkenhauer läßt in seinem Leitfaden zur Geschichte der Kartographie die
Gradnetze nicht unberücksichtigt. 1 Einzelne Projektionen und Projektionsgruppen
haben spezielle monographistische Behandlung erfahren. Immerhin fehlt aber eine
abgerundete und allseitig vertiefte Geschichte der Projektionen. Die Hauptpunkte
dieser Geschichte seien im folgenden kritisch gewürdigt.
40. Erstes Aufleuchten der Projektionen. Aus dem Kreuz zweier Gradlinien, der
Nordsüd- und der Ostwestlinie, der Plankarte (Plattkarte) hat sich das Gradnetz ent
wickelt. Das Orientierungskreuz findet seinen ersten geschichtlichen Beleg bei Di-
käarch von Messina (850—290). Das erste Gradnetz, dessen Beschreibung wir dem
ersten Buche, Kap. 20, der Geographie des Ptolemäus entnehmen, ist die oblonge
oder rechteckige Plattkarte des Marinus (um 100 n. Ohr.), nicht des Anaximanders,
wie Germain 1 2 , Gretschel 3 und Wenz 4 meinen. Die Größe des Breitenparallels
1 Gut übersichtlich ist W. Wolkenhauers „Zeitliche Entwicklung und Eigenschaften der
Kartenprojektionen“ in der Kartogr. Z. VI. 1917, S. 185—187.
2 A. Germain: Traité des projections des cartes géographiques. Paris 1866, S. 204.
3 H. Gretschel: Lehrbuch der Kartenprojektion. Weimar 1873, S. 133.
4 G. Wenz: Atlas zur Landkartenentwurislehre. München 1855, S. 2.