Full text: Die Kartenwissenschaft (1)

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Das Kartennetz. 
schon 1588 auf der doppelherzförmigen Weltkarte angewendet hatte, und er sicher 
lich durch seinen Mathematiklehrer Rainer Gemma Frisius (1508—1555) in die 
Lehren von Stab-Werner eingeführt worden war. Vielleicht trat sie in Einzel 
karten viel häufiger auf als wir es heute noch nachzuweisen vermögen. Leider fallen 
Einzelkarten viel schneller dem Vergessen und zuletzt auch der Vernichtung anheim 
als Atlanten. Gilt dies schon von der Gegenwart, so in erhöhtem Maße für die ver 
gangenen Jahrhunderte. 
Auf Mercators großer Europakarte sind die Parallelen abweitungs- oder 
längentreu abgeteilt. Das war für die Kartographen schon damals keine Schwierig 
keit, da Tabellen über die Abnahme der Längengrade mit dem Cosinus der Breite 
in Apia ns Cosmographicus liber 1526 und bei andern existierten. Zuletzt konnte 
man die Abweitungstreue auch auf dem Globus abzirkeln. Eine Folge der Konstruk 
tion ist, daß die Meridiane, die ihre Rechtschnittigkeit von der Mitte aus besonders 
nach der Südwest- und Südostecke der Karte auffällig einbüßen, gekrümmt erscheinen. 1 
Auch bei den andern Mercatornetzen liegt der Projektionspol für die Parallelen 
konstruktion im Nordpol, nur bei der Karte „Asia“ im Atlas minor liegt der Pro 
jektionspol nicht ganz 10° über den Nordpol hinaus. Beinahe möchte dies als ein Ver 
sehen des Zeichners erscheinen, besonders wenn man die Karte „Europa“ in demselben 
Atlas damit vergleicht, wo der Projektionspol der Parallelen genau der Nordpol ist, 
wenn nicht vielleicht dieses Bedenken gewaltet hat, daß bei der Benutzung des Netzes 
von Europa die gewaltigen Landmassen im Norden Asiens sehr zusammengedrückt 
worden wären; und in den andern Ausgaben des Atlas minor tritt uns die gleiche 
Konstruktion entgegen, mithin ist sie als beabsichtigt anzusehen. Von dem Mittel 
punkt des Kreisnetzes kann man Tangenten an die Meridiankurven legen, die etwa 
den 50. Breitenparallel treffen. Das würde ganz dafür sprechen, daß wir hier eine 
unechte abweitungs- und flächentreue Kegelprojektion, bzw. die Bonnesche Pro 
jektion vor uns haben. Bei Bonne jedoch ist der Berührungsparallel zwischen Kegel 
und Kugel von vornherein berechnet, er steht in innigem Verhältnis zum Kugelradius 
und zur Entfernung zwischen ihm und Kegelspitze. Es ist anzunehmen, daß bei 
Mercator, wie ich oben schon andeutete, ein rein praktischer Gesichtspunkt gewaltet 
hat; die Parallelen wurden mehr gestreckt, um ein besseres Bild der Verteilung der 
Ländermassen am nördlichen Polarkreis zu erhalten, deren seitliche Gebiete im 
gleichen Kartenformat bei den Parallelkreisen mit Polmittelpunkt eingebüßt hätten, 
insofern sie außerhalb des Kartenrahmens gefallen wären. Mithin hat man mit dem 
Kreismittelpunkt von etwa 98° Entfernung vom Äquator bei dem kleinen Maßstab 
der Karte, rund 1 : 70000000, ein leidliches Bild von der Verteilung der Landmassen 
erhalten. Diesen Entwurf kann man wie den folgenden als eine verbesserte (zweite) 
Ptolemäusprojektion ansehen. Die Ptolemäischen Projektionen zu verbessern, war 
ja sein ernstes Streben, wie er selbst in der Praefatio zu seinem Ptolemäus des 
Nähern ausführt. 
Mercator war mit der Verlegung des Zentralpunktes des Kreisnetzes über 
den Nordpol hinaus in der Verlängerung des Mittelmeridians (durch Ptolemäus) 
vertraut, wie sich noch an einer seiner andern Karten nachweisen läßt, die deshalb 
auch als eine verbesserte (zweite) Ptolemäusprojektion angesprochen worden ist. 1 2 
1 Die Meridiane weichen hier 9—11° vom rechten Winkel ab. Man vgl. nur Blatt 11 der in 
Anm. 5 S. 137 bezeichneten Ausgabe. 
2 H. Averdunk u. J. Müller-Reinhard, a. a. O., S. 143.
	        
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