Allgemeinere geographische Anforderungen an die Kartennetze.
159
auf der Erdfläche in gerader Linie, das will eigentlich sagen auf einem größten Circuì
der Sphäre, liegt, das soll auch in der Landcharte in gerader Linie liegen. 5) Die geo
graphische Länge und Breite der Oerter soll auf der Charte können gefunden werden
etc. Das will nun überhaupt sagen, die Landcharten sollen in Absicht auf ganze
Länder, ganze Weltteile oder die ganze Erdfläche durchaus eben das sevn, was ein
Grundriß in Absicht, auf ein Haus, Hof, Garten, Feld, Forst etc. ist. Dieses würde
nun ganz wohl angehen, wenn die Erdfläche eine ebene Fläche wäre. Sie ist aber eine
Kugelfläche, und damit läßt sich nicht allen Bedingungen zugleich Genüge leisten,
sondern man muß sich eine oder einige davon besonders vorsetzen, wenn es sich der
Mühe lohnt, derselben vorzüglich Genüge zu leisten.“
Die von Lambert zusammengefaßten Ansichten blieben herrschend und sind
im Grunde genommen ja auch heute noch herrschend; wir begegnen wieder den
gleichen Ansichten fast mit ähnlichen Worten vor rund einem halben Jahrhundert
in Petermanns Geographischen Mitteilungen. 1 Und vergleichen wir die ältern Dar
legungen mit den neuern, so will es uns bedünken, als ob die alten Bedingungen geo
graphischer klängen als die modernen. Die Bestrebungen der modernen Karten-
theoriker haben wohl unser mathematisches Gewissen hinsichtlich der
Projektionen geschärft, aber dabei nicht selten unser geographisches
Sehen verkümmert.
(»5. Die geographische Analyse der Erdkugelnetze. Das Verzerrungsgesetz be
stimmt gleichsam das ganze innerhalb von geographischen Koordinaten umschlossene
Flächenstück. Es ist eine Art quantitativer Analyse, die mit einem durch geo
graphische Koordinaten eingeschlossenen Kugelflächenstück nach seinen dimensionalen
Veränderungen vorgenommen wird. 1 2 Aber auch die qualitative Analyse muß
hei der Wahl der Projektion berücksichtigt werden, und diese wird wesentlich von den
geographischen Eigentümlichkeiten des Erdkugelnetzes geleitet.
Das Gradnetz unserer Erdkugel ist kein zufälliges. Haben wir es auch dem
Himmel entlehnt, so drückt es doch so spezifisch terrestrische Eigentümlichkeiten
aas, daß es Halt und Gerippe für das Verständnis geographischer Erscheinungen ist;
und es ist, als ob auf diese durch das Gradnetz gestützte geographische Tatsachen
viele der neuen Projektionen keine Rücksicht nehmen wollen und können. Das Grad
netz ist das wichtigste Hilfsmittel zur Orientierung auf der Erdkugel und hat gleich
sam etwas Apriorisches an sich, indem es ermöglicht, geographische Erfahrungen
zu machen und des weitern sie zu lokalisieren. Darum muß von vornherein in dem Grad
netz etw r as Bestimmtes, Festes, sagen wir „Starres“ liegen. Das offenhart sich in den
gleichweit entfernten Parallelen und den senkrecht darauf stehenden Meridianen,
die sich in den Polen vereinigen. Bekanntlich drücken die Breitenparallele die Ost
westrichtung aus und die Meridiane die Nordsüdrichtung. Beide Richtungen ergeben
die Koordinaten jedes Punktes auf der Erdkugel, und damit die genaue Lage. Die
Frage nach der Lage, nach dem Wo? ist ja die Kardinalfrage jeder geographischen
Disziplin: „Denn was nutzt mir die Kenntnis der Gesetze der geographischen Er
scheinungen, wenn ich nicht weiß, wo diese Erscheinungen sind?“ fragt Friedrich
1 P. M. 1865, S. 115. Der Verfasser des Aufsatzes ist E. Debes, wie dieser mir am 4. VIII.
1910 brieflich mitteilte.
2 Man vgl. mit meiner Auffassung: M. Fiorini in Le projezioni quantitative ed equivalenti
della cartografia (Bolettino della società geografica italiana 1887. 2 e Serie X, XI, XII).