Die lineare Topographie.
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Erfahrungen stehe ich auf dem Standpunkt, keinem Kartenelement einer topo
graphischen Karte zu trauen, das nicht durch Zahl und Maß bestimmt ist. Mag sein,
daß man sich eine große Routine erwerben kann, die Größe einzelner Linien, Winkel
und Flächen nach bloßem Augenmaß zu schätzen und ihre Lage anzugeben; Böschungs
winkel jedoch abzuschätzen, wenn man kein Vertikalinstrument zur Hand hat, heißt
die größte Anforderung an das Augenmaß bei zweifelhaftem Ergebnis stellen. Ich
erinnere nur daran, wie schwierig der Böschungswinkel eines Abhangs von vorn zu
schätzen ist, was höchstens bei nächster Nähe zu etwas Brauchbarem führt.
Wird ein Land die Kreuz und die Quer von Routenaufahmen durchzogen 1 ,
verdichtet sich allmählich das topographische Bild zu einer Karte 1 2 , die infolge des
unausbleiblichen kleinen Maßstabes einen fertigen, d. h. auf Grund flächenhafter
Aufnahmen entstandenen Eindruck macht. Das ist ganz dieser Eindruck, den wir
bei den meisten Karten von Asien, Afrika und Südamerika empfinden. Im Grunde
genommen ergeben die dichten, sich kreuzenden Routenaufnahmen noch keine
Plächendeckung, da das zwischen den Routennetzmaschen liegende Gelände in der
Hauptsache als unerforscht gelten muß. H. Fischer hat sich der mühevollen Arbeit
unterzogen, die verschiedenen Aufnahmen bei der topographischen Erschließung von
Vorderasien kartographisch zu veranschaulichen. 3 Bei der Betrachtung des Karten
bildes wird jeder erstaunt sein, wie wenig in Vorderasien als Aufnahme im Sinne
unserer Landesaufnahme gelten kann, wie ungleichwertig und zerfasert das Routen
netz ist, wie groß und zahlreich die unerforschten Gebiete zwischen den einzelnen
Wegeaufnahmen sind und wie E. Hammer nur allzu recht hat, wenn er Kleinasien
topographisch als Terra incognita bezeichnet 4 ; und dabei liegt uns Vorderasien kul
turell näher als das meiste außereuropäische Kolonialgebiet. Und gehen wir weiter
in europaferne Gebiete, da sieht es noch trauriger mit der topographischen Er
schließung aus. 5
110. Die Phantasie als große Gefahr der Routenaufnahme. Bei den Routen
aufnahmen besteht zu große Gefahr, das Kartenbild durch die Einbildungskraft zu
ergänzen, also bewußt oder unbewußt topographische Details in die Karte hinein
zuphantasieren. Das Mißtrauen des Kenners ist hier nur allzusehr berechtigt. Offen
und ehrlich muß sich der Geograph eingestehen, daß er bezüglich der Genauigkeit
diesen Kartengebilden gegenüber vielfach zu nachsichtig ist, weil die blendende Auf
1 Gute Hilfe leisten hierbei die bei Dietr. Reimer in Berlin erschienenen Routenaufnahme
bücher, von P. Sprigade u. M. Moisel bearbeitet und mit einer kurzen, klaren und völlig aus
reichenden Darstellung der Routenaufnahmen versehen.
2 Bei der Karte von Togo in 1: 200000 (10 Bl.), die P. Sprigade nach 15 jähriger Arbeit voll
endete, gelangten zur Verwendung 891 Routenaufnahmen, von 54 Aufnehmern herrührend, in 1925 Blatt
konstruiert, dazu noch 60 fertige Manuskriptkarten und -skizzen; zu Rate gezogen wurden 227 ver
öffentlichte Karten; an astronomisch festgelegten Punkten standen 349 zur Verfügung. — In der von
M. Moisel redigierten Spezialkarte von Kamerun in 1: 300000 (20 Bl. u. 4 Ansatzstücke) sind 724 Iti
nerare u. Vermessungen verschiedenster Art verarbeitet, herrührend von 210 Aufnehmern; die Auf
nahmen mußten erst in Kartenform aus den Feldbüchern übertragen, d. h. konstruiert werden, was
eine Summe von 4492 Blättern (46 x 60 cm) ergab.
3 H. Fischer: Vorderasien nach dem Stand der topograph. Kenntnis für 1914. P. M. 1920, T. 22.
4 E. Hammer: Über die Bestrebgg. der neuem Landestopographie. P. M. 1907, S. 97.
5 Unzählige Beispiele ließen sich hier herbeiziehen. Nur auf Nordwest-Haiti sei hingewiesen,
das R. Lütgens durch Routenaufnahmen weiter erschlossen hat; vgl. seine „Geographischen u. geo
logischen Beobachtungen in Nordwest-Haiti.“ Mitt. d. Geogr. Ges. in Hamburg, XXXII, S. 59ff.