8
Die Kartographie als Wissenschaft.
Wir halten es nicht für angebracht, den Spekulationen nach dieser Richtung
zu weit nachzugehen. Nachfolgende Tatsachen werden mehr sprechen und mehr be
weisen als subtile philosophische Erörterungen über Methode und Aufgaben, die man
gewöhnlich gern der Domäne des altern Wissenschaftlers überläßt, was natürlich ist,
da er auf eine lange Reihe von Forschungen und Erfahrungen zurückblicken kann.
Zuletzt ist jeder wirklich großer Forscher immer auch Philosoph. 1 Ganz können wir
auf die Erörterungen der Methoden nicht verzichten, wenn wir auch einsehen, daß es
nicht ratsam erscheint, von ihnen auszugehen, da ja die tiefgreifenden Unterschiede
der Methoden zuletzt in den Unterschieden der Gegenstände wurzelt; indessen halten
wir sie zur Einführung in die gesamte Materie für geeignet, sofern ihnen nur die Gegen
stände bzw. die Forschungsgebiete folgen, an denen und durch die die einzelnen Me
thoden erprobt werden.
A. Hettner tadelt die Auffassung vieler und auch tüchtiger Forscher, nach der
die methodischen Betrachtungen über die Aufgaben und die Grenzen der Einzel
wissenschaften als unnütz bezeichnet wird, als „einseitig und kurzsichtig, für ein Über
bleibsel aus jener Zeit, in der der philosophische Geist ganz abgestorben war und die
wissenschaftliche Roharbeit allein, womöglich nur für praktische Zwecke, wertgeschätzt
wurde“. Etwas anders klingen die Worte des für die Geographie leider zu früh ver
storbenen H. Schurz: „Im allgemeinen ist es ein charakteristisches Zeichen des Alterns
einer Wissenschaft, wenn mehr über sie als in ihr gearbeitet wird, wenn man mehr den
Autoritäten als den eigenen frischen Untersuchungen vertraut, oder wenn man mit
ängstlicher Sorgfalt die Grenzen des Forschungsgebietes gegen andere Wissenschaften
abzirkelt. In Wahrheit gibt es ja nur eine Wissenschaft, die Grenze solchen Forschens
aber suche jeder, wo es ihm nützlich erscheint, ohne sie andern aufzudrängen.“ Auf den
ersten Blick wirken beide Aussprüche gegensätzlich, indessen ist der Gegensatz nur
ein scheinbarer, entstanden aus einer Schlußfolgerung, die den gleichen Gegenstand
unter verschiedenem Einfallswinkel belichtet. Hettner will durch seine philosophischen
und methodischen Untersuchungen den Blick für das Eigentümliche der Geographie 1 2
und Kartographie 3 schärfen und erweitern, denkt aber durchaus nicht an einen Purismus
und läßt den teils zeitweiligen, teils dauernden Verflechtungen der Geographie und
Kartographie mit andern Wissenschaftsgebieten ihr Recht. Schurz legt auf die
letztere Erscheinung mehr das Schwergewicht, da man, um den charakteristischen
Unterschied einer Disziplin klarzulegen, mit einem Einteilungsprinzip nicht auszu
kommen vermag, und nur zu oft mehrere sich kreuzende Untersuchungsreihen benutzt
werden müssen. Es ist eine auffallende Tatsache, daß sich trotz zunehmender Arbeits
teilung die wissenschaftlichen Forschungen und Untersuchungen auf den verschiedensten
Gebieten immer mehr verflechten. Auch die Kartographie zeigt so recht, wie sie in die
wissenschaftlichen Forschungen der einzelnen geographischen und verwandten Zweige
ein- und übergreift, ganz gleich, ob sie naturwissenschaftlich oder geisteswissenschaftlich
geartet sind. Was verschlägt es, wenn sie sogar mit Wissenschaftszweigen, die in ihrem
Gegenstand wenig miteinander zu tun haben, „auf lange Strecken einen unteilbaren
Körper“ bildet. An der Selbständigkeit der Kartographie als Wissenschaft vermag auch
dies nicht zu rütteln.
1 M. Schlick: Allgemeine Erkenntnis lehre. Berlin 1918, S. VIII.
2 A. Hettner: Das Wesen und die Methoden der Geographie. G. Z. 1905, S. 545if.
3 A. Hettner: Die Eigenschaften und Methoden der kartographischen Darstellung. G. Z.
1910, S. 12 ff.