Das Morgendämmern neuer Geländedarstellungen.
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III. Das Morgendämmern neuer Geländedarstellungen.
243. Geländeaufnahme. Kavalier- und Vogelperspektive. Neben der mehr oder
minder naturgetreuen Nachbildung der Berge, die dem Anschauungsbedürfnis ihrer
Zeit vollständig genügte, vollzieht sich eine Neugestaltung der Geländedarstellung,
die von zwei verschiedenen Gruppen von Kartenzeichnern im 16. bzw. 17. Jahrhundert
ausgingen und sich im 18. Jahrhundert die Hand reichen, um ineinander aufzugehen
und das Fundament zu bilden, auf das sich eine wissenschaftliche Terraindarstellung
aufbauen konnte.
Der Aufnahme des Geländes durch Triangulierung und andere Meßmethoden,
die im 16. Jahrhundert von Privaten, Beamten und Gelehrten ausgeführt wurden,
bemächtigten sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts Offiziere, Militäringenieure,
zu denen sich später die Ingenieurgeographen gesellten. Gleichzeitig wurden von
ihnen die Aufnahmeverfahren weiterhin verbessert. Das Befestigungswesen, das neue
Impulse von Italien, vorzüglich jedoch von Frankreich empfing, verlangte nach gut
vermessenen Plänen und Detailkarten. Der bloße Grundriß ergab noch kein karto
graphisches Bild, und der Aufriß der üblichen mehr oder minder perspektivischen
Gebirgszeichnung verdeckte zu viele wichtige Teile des Festungsgeländes und dessen
weiterer Umgebung. So kam man auf die Idee, das Festungsgelände von einem er
höhten Standpunkt aus abzubilden, gesehen vom „Kavalier“, einem im Innern der
Festungsbastion den Hauptwall überragendem Werk, von dem aus das Gelände gut
überblickt werden kann. Die Kavalier per speliti ve (perspective cavalière) oder
Militärperspektive oder Halbperspektive ist eine Art geometrischer Projektion,
eine Parallelprojektion (unter 45°), bei der das Objekt über Eck angesehen wird -
daher das Auge schief über ihm gedacht — und es halb von der Seite, halb von oben
gezeichnet wird. Mit jedem Objekt wechselt der Standpunkt des Beschauers, aber
so, daß jedes die gleiche perspektivische Behandlung erfährt. Alle Teile des Gegen
standes werden in gleicher Sehweite dargestellt. 1 Davon unterscheidet sich die
eigentliche Perspektive, die alle Objekte nach ihrer verschiedenen Entfernung
oder nach dem wahren Sehwinkel zeichnet. Wurde der Gesichtspunkt hoch gelegt,
so führte dies zur Vogelperspektive, nach der gleichfalls viele Karten entworfen
wurden. Diese, wie alle eigentlichen perspektivischen Abbildungen rücken in ihrem
Wesen von den eigentlichen Karten ab und schwenken mehr in das Gebiet des Pano
ramas und Landschaftsgemäldes hinüber, wie es beispielsweise bei dem prachtvoll
ausgeführten, allerdings dem 19. Jahrhundert schon angehörenden Delleskamps
malerischen Relief des klassischen Bodens der Schweiz, Frankfurt a. M. 1830,
empfunden wird. * 1 2 Die Gegend wird nur von einem Standpunkt aus gedacht dar
St. Bernard und Petit St. Bernard als kolossale Bergbilder gezeichnet sind. — Ähnlich gewaltig und
massig ist die perspektivische Bergansichtzeichnung auf einer Karte von Oberitalien, gestochen von
Jacobus Stagnonus, Turin 1772. — Zu diesen Karten gehört auch die Schweizer Karte in dem
„Großen Deutschen Atlas“ aus dem Reillyschen Landkarten- und Kunstwerkeverschleiß-Kontor.
Wien 1795. [k. Bibi. Berlin.]
1 J. G. Lehmann: Darstellung einer neuen Theorie der Bezeichnung der schiefen Flächen
im Grundriß oder der Situationszeichnung der Berge. Leipzig 1799, S. 75.
2 Auf 9 Blättern sind in mühsamer Weise die Gegenden um und zwischen Züricher u. Vier
waldstätter See bis Meiringen wiedergegeben, wie man sie, im Luftballon darüber hinfahrend, erblicken
würde. Das Werk befindet sich in der Bibliothek des Reichspostamtes in Berlin. Delleskamp hat
uns auch vom Rhein ein ähnliches Reliefbild hinterlassen.