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Die Landkarte und ihr Gelände.
Stehens von heute Selbstverständlichem ganz vergessen hat. Und doch hat tatsächlich
zu keiner Zeit die Kartographie mit so viel Altem aufgeräumt und noch mehr Neuem
die Türen geöffnet als um 1800, daß wir berechtigt sind, nicht bloß von einer Er
neuerung und Verbesserung der Karte, sondern geradezu von einer kartographischen
Umwälzung zu reden. Kein Zweig der Kartographie blieb von der Revolution ver
schont, selbst alt berühmte kartographische Institute, die trotz aller krampfhaften
Neuerungsversuche den Geist der neuen Zeit nicht verstanden, tauchen in die Ver
senkung, wie die Homannische Anstalt in Nürnberg, ganz zu schweigen von Seutter
in Augsburg, Schreiber in Leipzig, Schenck in Amsterdam, Sanson, Tavernier in
Frankreich und Moll in England.
254. Die politischen und wissenschaftlichen Ursachen der kartographischen Re
volution. Die Kartographie folgt gern der politischen Macht. Die Blüte des fran
zösischen Königtums war zugleich die Blüte der Kartographie im 18. Jahrhundert.
Es will uns kaum als Zufall dünken, daß sich mit der französischen Revolution fast
gleichzeitig die kartographische vollzieht, freilich nicht so katastrophal wie die poli
tische, aber um so innerlicher, gediegener und von lang dauernder Wirkung. Eine
ungeheure Fülle von triebfähigen Keimen wurde geschaffen, die das 19. Jahrhundert
zum Aufgehen und Wachsen brachte. In keiner Geschichtsepoche erfuhr das karto
graphische Erbe der Vergangenheit einen solchen Umschwung und eine derartig
gewaltige Vermehrung als zur Zeit der kartographischen Revolution. Zunächst waren
es eine ganze Menge vorbereitender Erscheinungen, die das Kommen einer karto
graphischen Revolution begünstigten und die Zeit dafür reif machten.
Der gewaltige Aufschwung der Natur- und Geisteswissenschaften ging nicht
unbemerkt an Geographie und Kartographie vorüber. Der Traité de mécanique
céleste, Paris 1799, von P. S. Laplace leitete alle Bewegungen der Erde und der
übrigen Planeten aus dem einfachen Grundsatz von der allgemeinen Körperschwere
lier (Newton). Die Astronomen jener Zeit hatten ein großes Interesse, von möglichst
vielen Orten der Erde die geographischen Koordinaten und Meereshöhen zu bestimmen;
so förderten sie wie mit Hilfe neu errichteter Sternwarten 1 die Grundlagen einer
exakten Kartographie. 1 2 K. Linné, A. Young, K. L. Willdenow und J. Senebier be
gründeten die Pflanzengeographie und E. A. W. Zimmermann zeichnete 1788 die
erste tiergeographische Karte. Aber noch waren die Universitäten trotz Immanuel
Kant (1724—1804) und Georg Christoph Lichtenberg (1742—1799) keine rechten
Pflanzstätten der Geographie, und diese wie Kartographie waren auf die wissen
schaftlichen Ergebnisse benachbarter Disziplinen angewiesen. Trotz der bände
1 So z. B. die Sternwarte auf dem Seeberg bei Gotlia durch Pr. Xaver v. Zach (1754 — 1832).
2 In Frankreich hatte sich bereits während des 18. Jahrh. die genaue topographische Karte
auf Grundlage astronomischer Ortsbestimmungen und geodätischer Triangulierung entwickelt. In
Deutschland, wo die Kleinstaaten und reichsstädtischen Republiken nicht die Mittel zu solchen kost
spieligen Mappierungsarbeiten aufbringen konnten, herrschte während des 18. Jahrh. eine wahre
Pinöde in bezug auf astronomische Ortsbestimmungen. Infolgedessen besitzen wir auch keine karto
graphischen Leistungen aus jener Zeit, die auf die kommenden Jahrzehnte von Einfluß gewesen wären.
Dies Grundübel der deutschen Kartographie konnten auch Homanns Erben, zunächst Joh. Chri
stoph Homann und sodann J. G. Ebersberger und Joh. Mich. Franz nicht beheben, was erst
den staatlichen Aufnahmen in der ersten Hälfte des 19. Jahrh. gelingen sollte. Man vgl. hierüber auch
meine Ausführungen über die Geschichte der Triangulierungen, oben S. 258ff.