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Die Kartographie als Wissenschaft.
der durch die Entdeckungen geförderten Welterkenntnis beträchtlich hinterher-und
der zuweilen vertretene Parallelismus von Welterkenntnis und Weltbild gerät in be
denkliches Schwanken. Vertrautsein mit dem Gang der Weltgeschichte ist ein wichtiges
Fordernis für den Kartenforscher : dabei darf er sich nicht an einzelne wenige Tatsachen
anklammern, die nur selten zu einer einwandfreien Auffassung historischer Dokumente
führen, sondern das Ganze einer historischen Periode muß er vor Augen haben und sich
in das geistige Niveau, in dem ein einzelner Autor aufgewachsen ist oder eine Gelehrten-
bzw. Kartographenschule gewirkt hat, einfühlen. Man darf, um mit H. Wagner zu
sprechen, über die Freude der Entdeckung kartographischer Quellen, Originale und
Zusammenhänge das wichtige Erfordernis eines Geschichtsschreibers der Wissenschaft
nicht außer acht lassen, „nämlich die Versenkung in den Zeitgeist, in das ganze wissen
schaftliche Können, sowie den literarischen Gesichtskreis einer Gruppe von Forschern
der jeweilig in Betracht kommenden Perioden“. 1 So spielt der gesamte Kulturzustand
und das wirtschaftliche Leben in die Geschichte der Karte hinein, vor allem auch Schiff
fahrt, Handel und Heerwesen und last not least das Kunstleben eines Volkes. Von
fundamentaler Bedeutung sind bei allen historischen kartographischen Forschungen
die geographischen und teilweise die mathematischen Erkenntnisse der einzelnen Zeit
perioden.
Als ein großer Mangel ist in der geographischen Wissenschaft das Fehlen einer
Geschichte der Karte und damit einer Geschichte der Kartographie empfunden worden.
Sie dürfte bis auf weiteres noch kaum geschrieben werden. Die Zeit scheint noch nicht
reif dazu zu sein. Es fehlen noch zu viele Vorarbeiten. Wohl gibt es einige ältere Ver
suche, so von Caspar Gottschling: Versuch von einer Historie der Land-Charten,
Halle 1711, und von E. D. Hauber: Versuch einer umständlichen Historie der Land-
Charten, Ulm 1724. 1 2 Indessen versprechen die Titel mehr als die Bücher in Wirklichkeit
bieten. Einige kleine zusammenhängende Arbeiten, wie von W. Wolkenhauer 3 ,
A. Laussedat 4 u. a. verweisen in die jüngste Zeit. Auch sie sind noch lange keine
Geschichte der Karte oder der Kartographie. Die Arbeiten von d’Avezac, J. Lelewel,
H. Wagner, M. Fiorini, E. v. Nordenskiöld, S. und W. Buge, K. Kretschmer,
S. Günther, V. Hantzsch, H. Beschorner, Ch. Sandler, Fr. v. Wieser, G. Mar
cel, H. Lutz, J. E. Niemeyer, K. Ahlenius, A. Heyer, E. C. Abendanon, W. und
Aug. Wolkenhauer u. a. m. bedeuten erfreuliche Anfänge und Bausteine zu einer
Geschichte der Karte. Das Hemmende zur Fertigstellung des großen Baues einer Ge
schichte der Kartographie liegt teils an der Person, teils an der Sache. Ein Geschichts-
1 H. Wagner: Über das von S. Günther 1888 herausgegebene spätmittelalterliche Ver
zeichnis geographischer Koordinatenwerte. Methodische Bedenken. Nachrichten v. d. K. Ges. der
Wiss. Göttingen 1891, S. 257. — In den Göttinger Nachrichten hat Wagner noch andere klassische
Beispiele gegeben, wie historisch-kartographische Erscheinungen kritisch zu untersuchen sind; z. B.:
Die dritte Weltkarte Peter Apians v. J. 1530 und die Pseudo-Apianische Weltkarte von 1551,
Göttingen 1892. — Die Rekonstruktion der Toscanelli-Karte v. J. 1474 und die Pseudo-Facsimilia
des Behaim-Atlas v. J. 1492. Göttingen 1894. — Diese Arbeiten heben sich in ihrer ganzen Unter
suchungsmethode von den historisch-kartographischen Arbeiten von S. Günther vortrefflich ab,
der mehr auf das Sammeln von Tatsachen ausgeht und in der Benutzung seiner Quellen nicht
gerade wählerisch ist; infolgedessen ist man gezwungen, Günthers Zitate öfters nachzukontrollieren.
2 Hierzu gehört auch E. D. Haubers „Nützlicher Discours etc.“ Ulm 1727.
3 W. Wolkenhauer: Leitfaden zur Geschichte der Kartographie in tabellarischer Darstellung.
Breslau 1895. Verschiedene Ergänzungen sind zu diesem brauchbaren Werkchen in den „Deutschen
Geographischen Blättern“ in Bremen erschienen.
4 A. Laussedat: Histoire de la cartographie. Revue scientifique 1892, S. 707—714, 742—751.