72
Die Kartographie als Wissenschaft.
Neuerdings ist der Einführung in das Verständnis der Karte eine ungeahnte
Hilfe in dem Fliegerbild entstanden. Die Fliegerbilder des Weltkriegs haben von
den verschiedensten Gegenden Europas und des nahen Orients eine reiche Anzahl
charakteristischer Landschaftstypen eingeheimst, sowohl in Schräg- wie Senkrecht
aufnahmen. Sie bilden gleichsam das Bindeglied zwischen den sonst üblichen Aufriß
bildern und der Karte. Der Geographie- und Kartenunterricht hat durch das Flieger
bild ein großartiges Hilfsmittel erhalten, das in seiner Bedeutung allerdings auch nicht
überschätzt werden darf. 1 Der Bedeutung des Fliegerbildes für die Karte werde ich
noch eine Sonderuntersuchung widmen (s. § 127 ff.).
25. Entstehung und Zweck der Karte. Wie jede Disziplip danach strebt, ihre
Hauptresultate allgemein und übersichtlich zusammenzufassen, finden wir dies Be
streben nicht minder in der Geographie; denn die Einzelheiten der Geschichte der
Wissenschaften gewähren nur insofern einen Nutzen, als man sie durch ein gemeinsames
Band verknüpft (A. v. Humboldt). Dieser Forderung kommt die Geographie teils
durch das Wort, teils durch die Karte nach. Gerade die wohlbegründete Massen
anschauung 1 2 , wie sie eine gute Karte bietet, ist für die geographische Wissenschaft von
einem Wert wie er einer andern Wissenschaft in ähnlicher Weise kaum zur Verfügung
steht 3 ; und die Geographie hat zweifelsohne in der zweifachen Möglichkeit der Zusammen
fassung andern Wissenschaften gegenüber einen großen Vorsprung.
Die Karte ist dem Bedürfnis, sich über die Erde zu orientieren, entsprungen.
Davon zeugen sowohl unsere bestausgeflihrten Generalstabskarten wie die primitivsten
Kartenleistungen der Naturvölker. Letztere Kartenprodukte fordern oft unsere Be
wunderung. Sie gehen auf Naturvölker zurück, deren Orientierungssinn besonders
scharf ausgebildet ist. Bekanntlich ist der Orientierungssinn bei den nomadisierenden
Völkern größer als bei den ackerbautreibenden. Dieser Unterschied besteht z. B.
zwischen den Sahara- bzw. Sudanvölkern und den Bewohnern Südafrikas. Der Va-
queano ist der Pilot in den argentinischen Pampas, der auch dort sicher den Weg findet,
wo kein Weg ist. 4 Die Indianer Nordamerikas, die Eskimos in Grönland, die Ostjaken,
die Mongolen der Gobi, die Polynesier — alles Völker, die große Räume in ihrem Lebens
und Bewegungsgebiet überwinden müssen — haben uns Beweise ihres kartographischen
Könnens gegeben. 5
1 Auf die große Bedeutung des Eliegerbildes als geographisches Anschauungsmittel
hinzuweisen, erübrigt sich bei meinen Erörterungen. Trotzdem kann ich nicht umhin, auch hier zur
Vorsicht zu gemahnen. Wenn irgendwo, gilt bei der Auswahl von Eliegerbildem: Non multa, sed
multum! Denn man geht bereits an mehreren Stellen daran, aus der Unzahl von Fliegerbildern
typische Bilder zusammenzustellen. Sicher ist, daß sie über viele morphologische Siedelungs- und
andere Erscheinungen Klarheit und Licht bringen. Aber ihre Auswahl sollte man den Autoritäten
auf diesen geographischen Gebieten überlassen und danach streben, eine größere Anzahl nach Art
der Luftbildkartenblätter zu einem landschaftlichen Ganzen zusammenzufügen, damit die Einzel
erscheinung in ihrer Umgebung und Gesamtwirkung erfaßt wird.
2 E. v. Sydow: Der kartographische Standpunkt Europas in den Jahren 1864 und 1865.
P. M. 1865, S. 449.
3 J. Spörer: „Nichts ist geeigneter, die Gesamtverhältnisse der Erdphysik zu einheitlich
zusammenfassender Anschauung zu bringen als das von kundiger Hand geschaffene Kartenbild.“
G. J. Bd. III. 1870, S. 332.
4 K. And ree: Geographie des Welthandels. I. Stuttgart 1867, S. 184, 264.
5 R. And ree: Ethnographische Parallelen und Vergleiche. Stuttgart 1870, S. 202 —215. —
A. Schück: Die Stabkarten der Marshall-Insulaner. Hamburg 1902. — W. Droeber: Kartographie
bei den Naturvölkern. Diss. Erlangen 1903.