Zur Geschichte der Seekarte.
9
Aus der rein graphischen Sphäre, in der sich die Rumben auf den alten mittelmeeri-
schen Seekarten befanden, schwangen sie sich in eine wissenschaftliche hinein. Sie werden
zu Orthodromen und Loxodromen. Zu Orthodromen nur im beschränkten Maße auf
wenigen Karten, wie auf der des Bartholomaeus Crescentius 1596 1 , zu Loxodromen
auf den Karten, die nach dem Prinzip der Mercatorprojektion aufgebaut sind, was in
größerm Umfange zum ersten Male bewußt für eine größere Anzahl von Karten eines
Seekartenwerkes im Neptune fran^ois geschah. Auf Karten von kleinern Gebieten läßt
sich schwer die Orthodrome von der Loxodrome auseinander halten, besonders auf
denen, die in Millionenmaßstäben uns entgegentreten, was Wunder, daß die einen
die Rumben als rechtläufige und die andern als schiefläufige Linien deuten. Des
gleichen sind auch die Linien, die sich auf Karten zeigen, die von Schiffsleuten der
arabischen und indischen Küstenstrecken entworfen und uns in dem Seespiegel Mohit
von 1554 (der den Abschluß des orientalischen Wissens über die Küstengebiete und
Inseln des indischen Beckens darstellt) überliefert sind, keine Loxodromen, wofür
sie W. Tomaschek ansieht. * 1 2 Allenfalls sind es ganz gewöhnliche, unregelmäßig
gezogene Rümbenlinien auf Karten, deren Örtlichkeiten in bezug auf die Breitenlage
durch Visieren mit dem Finger, dem Daumen, arabisch isba genannt, also nach Daumen
breiten (Isben) oder Zollhöhe zu einem bekannten Gestirn, zumeist zum Bärengestirn,
bestimmt worden sind.
Die Mißweisung, die im Atlantischen Ozean eine ganz andere Rolle spielt wie
im Mittelmeer, wurde unter gewissen Voraussetzungen für die Kartendarstellung
verhängnisvoll, daß man gezwungen war, Mittel und Wege zu ersinnen, den Mißstand
zu beseitigen. Zur Abhilfe hatte man im Laufe eines Säkulums viererlei Methoden
ersonnen. Es mochte den gewissenhaften Nautikern jener Zeit Kopfschmerzen be
reiten, wie sie mit einer geeigneten Kartendarstellung aus dem Dilemma herauskommen
sollten. 3 Die tiefer darüber Nachdenkenden suchten das Heil darin, auf der Karte
neben der astronomisch bestimmten Breitenskala noch eine solche mit der Magnet
nadel bestimmte anzubringen. Eine weitere Folge war, daß sich Äquator und Wende
kreise nach den beiden Breitenskalen richteten, also doppelt in verschiedener Lage
auf dem Kartenbild erschienen. Schon Kolumbus beklagte sich über diese Ungereimt
heit. Von den Karten, die mit doppelter Breitenskala auf uns gekommen sind, scheint
die des portugiesischen, später in spanischen Diensten arbeitenden Pedro Reinei
vom Jahre 1505 (1504?) die erste zu sein. 4 Neben der Hauptbreitenskala sehen wir
legenheit, sitten, völcker, fruchtbarkeit, handtirung, sampt andere zu wissen nützliche Sachen, schrifft-
lich vnd augenscheinlich nach notturfft daraus mögen erlernet werden. Zugricht durch Matt hi s
Qvaden. Kupfferschneider Coln am Rein. MDC, S. 82.
1 Vgl. Nordenskiöld: Periplus, T. XXXI.
2 Die topograph. Capitel des indisch. Seespiegels Mohit. Übersetzt von M. Bittner. Mit
einer Einleitg. sowie mit 30 Taf. versehen von W. Tomaschek. Festschrift z. Erinnrg. an d. Er
öffnung des Seeweges nach Ostindien durch Vasco da Gama (1497); hg. v. d. Geogr. Ges. in Wien.
Wien 1897, S. 21.
3 In neuerer Zeit hat Aug. Wolkenhauer auf dieses Problem der alten Kartographie hin
gewiesen u. es zum Gegenstand einer eingehenden Untersuchung gemacht in den „Beiträgen zur
Geschichte der Kartographie u. Nautik des 15. bis 17. Jahrh.“ Mitt. d. Geogr. Ges. in München.
I, 2. Heft. München 1905. — Die Ergebnisse seiner Untersuchung sind kurz zusammengefaßt in
dem Vortrag: „War die magnetische Deklination vor Kolumbus erster Reise nach Amerika bekannt?’ 4
Deutsche Geogr. Blätter. XXVII. Bremen 1904, S. 158—175.
4 Original in d. Hof- u. Staats-Bi. München. Reproduziert bei Wolkenhauer, a. a. O., T. IX. —
Über P. Reineis Karte vgl. weiter die Lit. in Nordenskiölds Periplus, S. 178a.