Zur Geschichte der Seekarte.
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bestimmte. Zunächst zeigt es sich noch schüchtern im Kartenbild. Nur die Breiten
skala wird angegeben. Später erst die Längenskala. Das Gradnetz, das auf diese
Weise entstand, bezeichnet man als Plattkartennetz. Sollte die Karte eine Welt
karte sein, war der Äquator die ausschlaggebende Linie für die Konstruktion. War
sie eine Teilkarte, übernahm die Führung meist der Parallel in der Mitte des Blattes.
H. Wagner sucht nachzuweisen, daß die Toscanellikarte vom Jahre 1474 als die
erste nautische Plattkarte zu betrachten sei. 1 Als noch ältere Plattkarte möchte
ich vor allem die von Claudius Clavus ansprechen. Da wir die Karte von Toscanelli
nur in der Rekonstruktion kennen, erblicken wir heute immer noch die Weltkarte
von Canerio 1502 (?) als die Karte, die als erste die Breitenskala am Kartenrande
bringt 1 2 ; oder sollte doch die autorlose portugiesische Weltkarte vom Jahre 1502, die
gleichfalls die Breitenskala trägt, etwas älter sein? 3 Die Längengrade sind nicht
angegeben. Die gleiche Erscheinung begegnet uns auf der Karte Hydrograpliia
sive Charta marina in der Straßburger Ptolemäusausgabe vom Jahre 1513. 4 Der
„Uslegung der mercarthen oder cartha marina“ von Laurentius Friess vom
Jahre 1525 ist eine Spezialkarte des Schiffskurses vom Kap S. Yicente im SW
von Portugal nach Madeira beigegeben; sie zeigt keine Rumben und trägt an der
Seite Breitengrade.
Die Rumbenkarten des Mittelmeeres mußten sich von der Renaissancezeit ab
der Breitengradangabe, die auf den Karten des Atlantischen Ozeans gepflegt und
ausgebildet worden war, anpassen und sie selbst übernehmen, wie es die Karten von
Domingo Olives 1568, Diego Homen 1569, Vincentius Demetrius Yoltius 1593, Bar-
tholomaeus Crescentius 1596 zeigen. Bemerkenswert sind die Karten aus dem ita
lienischen Seeatlas (1567) von Hieronymus Girara, die fast sämtlich mit der
Breitenskala ausgerüstet sind 5 . Daß durch die sicherem Breitenbestimmungen sich
1 H. Wagner: Die Rekonstruktion der Toscanellikarte v. J. 1474 u. die Pseudo-Facsimüia
des Behaim-Globus v. J. 1492. Nachr. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, Phil.-histor. Kl. 1894, S. 215.
2 Die Karte befindet sich in der Manuskriptkartensammlung des „Service hydrographique
de la marine“ in Paris unter dem Titel: Mappemonde sur velin. Auteur Nicola de Canerio 1501 à
1504. L. Gallois beschreibt sie näher: Une nouvelle carte marine du XVI:e siècle, le portulan de
Nicolas de Canerio. In: Bull, de la Soc. de géorg., Lyon 1890. Eine Photogravüre der Karte gibt
G. Marcel in: Reproduction de cartes et de globes, relatives à la découverte de l’Amérique, Paris
1893. Eine vorzügl. Ausg. hat L. E. Stevenson veranlaßt: Canerio Januensis, Nie. de, marine
world chart 1502 (ca.). Facsimile in 10 sheets and key-map. New York 1907—1908. Unter Bei
hilfe der „American geographical society“ u. der „Hispanic society of America“ ist die Karte repro
duziert u. herausgegeben worden. — Nach Gallois ist die Karte portugiesischen Ursprungs. Auf
einer Bemerkung zu der Karte, die von H. Harrisse herstammt (Sept. 1889), las ich, daß man keine
Spur des Originals kenne. Indessen eine weitere Anmerkung dazu lautet : „Si! Cet original est à
la Biblioth. Esteuse de Modène.“ Mir war es nicht möglich, dieser Bemerkung weiter nachzugehen.
Doch scheint sicher zu sein, daß die Karte von Canerio mit einer ähnlich ausgeführten Weltkarte
von Cantino aus d. J. 1502 auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen. — S. Rüge betont in seiner
Abhandlung üb. „Die Entwicklg. der Kartographie von Amerika bis 1570“ (P. M., Ergh. 106. Gotha
1892, S. 37), daß man vor 1502 keine Karte mit Angabe der Breitengrade finde.
3 Diese Karte befindet sich im Besitz eines gewissen Hamy; sie wird von H. Harrisse „the
King chart“ genannt, Vgl. Nordenskiöld: Periplus. T. XLV.
4 Vgl. Nordenskiöld: Facsimile-Atlas, T. XXXV.
5 Hieronymus Girara von Tarragona war bisher nur als Kosmograph bekannt und fehlt
deshalb bei Nordenskiöld, S. u. W. Rüge, Kretschmer, Fischer u. in den Studi biogr. e bibliogr. unter
den Portulan- bzw. Rumbenkartenzeiehnern. Das außevordentl. wertvolle Manuskript dieses Atlasses
sah ich bei dem Buchhändler u. Antiquar Karl W. Hiersemann in Leipzig.