Full text: Die Kartenwissenschaft (2. Band)

Völkerkarten. 
453 
unfreiwilligen Wanderungen im Großen Ozean zeigt. 1 Der Karte liegt eine Zeichnung 
der Meeresströmungen zugrunde; ohne diese wäre sie nicht gut verständlich. Mit 
blauen Linien werden die Fahrten mit vorherrschenden Wind- und Strömungs 
richtungen angegeben, mit roten die Fahrten gegen den Wind. 
Da die Linie das von Haus aus Gegebene ist, Völkerbewegungen und Richtungen 
zu veranschaulichen, kann es nicht auf fallen, ihr fast ausnahmslos auf den Völker 
wanderungskarten zu begegnen. Das war früher so und ist heute nicht anders. Auf 
den Völkerkarten im alten Berghaus (ethnographische Karten von Afrika, Nord- 
und Südamerika) sehen wir die Linien in Pfeile aufgelöst, um die hauptsächlichsten 
Wanderströme hervorzuheben. Höhern Wert erhält die Linie, wenn es möglich ist, 
ihr das Wanderjahr anzuschreiben, wie es P. Langhans auf einem Kärtchen zur 
Übersicht der Wanderungen und Kolonien der Mennoniten in Rußland getan hat. 2 
Heute wie vor Jahren ist es ein dringendes Derideratum einen Atlas der 
Völkerwanderungen zu schaffen. Wir haben noch nicht einmal eine Übersichts 
karte für die germanischen Wanderungen, die um so nötiger wäre, je mehr durch 
unsere Schuldispositionen und eine zerhackte, zersplitterte Chronologie die Kunde 
von diesen Wanderungen auseinanderfällt. Wie nützlich wäre es aber daneben auch 
ein Kartenbild von den hunnischen, türkischen, arabischen, malaiischen, Bantu- 
und indianischen Wanderungen zu geben und damit die Möglichkeit der Vergleichung, 
dieser Grundlage aller Wissenschaft. 
Um die Völkerwanderungen und -bewegungen aufs Kartenbild zu bannen, bedarf 
es eines vielseitigen gediegenen Wissens. Nicht bloß Anthropologie und Linguistik 
geben die nötigen Fingerzeige der Forschung, sondern auch — was aber leider viel 
fach vernachlässigt worden ist — die Geschichte. Alle drei im engen Bund ver 
mögen das nötige Licht in den Völker Wirrwarr zu bringen. Daß man damit selbst 
einem scheinbar unentwirrbaren ethnischen Chaos Herr zu werden vermag, hat 
Hutter mit seiner Völkerkarte von Kamerun gezeigt. 3 Mit Farbennuancen und 
Schraffierungen werden 14 Stämme unterschieden. Die in liegender Schrift ein 
geschriebenen Namen (z. B. Duala, Margki, Mattafall) bezeichnen Unterabteilungen 
der volklichen Hauptstämme, die im Flächenkolorit erscheinen. Die eingestreuten 
farbigen volklichen Bestandteile sind in Wirklichkeit nicht an den in der Karte ge 
wählten Platz gebunden. Die jeweilige Signatur besagt nur, daß diese Elemente 
in dem Hauptvolkgebiet Vorkommen, wie die Fulbe und Araber. 
Nicht bloß die Linie, auch die Farbfläche ist geeignet, historische, genetische 
Zusammenhänge zu veranschaulichen. Das klingt zunächst absonderlich, gewinnt 
aber an Realität und Beweiskraft, sobald die Farbe dem Vergleiche dienstbar ge 
macht wird. G. Gerland selbst hat die besten Karten dieser Art bisher gegeben. 
Wo finden wir beispielsweise ein Gegenstück zu der Karte, die uns die Völkersitze 
um 1500 und 1880 zeigt? 4 Auf keiner Karte ist jemals die Europäisierung so ver 
blüffend und eindringlich gezeigt worden wie hier. Bei der Betrachtung der Karte 
wird es uns mit einem Male verständlich, warum wir die Europäisierung der Erde 
als die großartigste und gewaltigste wirtschaftliche und kulturelle Erscheinung be- 
* O. Sittig i. P. M. 1890, T. 12. 
2 P. Langhans i. P. M. 1898, T. 12. 
3 Hauptmann a. D. Hutter: Versuch einer Völkerkarte von Kamerun. 1 : 5000000. Globus 
LXXXVI, 1904, T. 1. 
4 G. Gerland: Atlas der Völkerkunde. Gotha 1892, T. VI, Nr. 06.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.