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Ästhetik und Logik der Karte.
Die Farbe dient wie ehedem zur Verdeutlichung der politischen Verhältnisse,
sei es auf rein politischen Karten oder auf Karten, die auch andern Zwecken dienen. 1
Unter den Karten mit politischem Kolorit, die eine neue Epoche für diese Art
Illuminierung beginnen, steht mit an erster Stelle Adolf Stielers Atlas von Deutsch
land (1855). 1 2 Zu jener Zeit hatte Deutschland keine andere Karte aufzuweisen, die
das buntfarbige Staatenbild mit gleicher Sicherheit und gleich geschmackvollem
Kolorit aufklärte, keine, die die standesherrlichen Besitzungen der mediatisierten
Fürsten und Grafen in solcher Unzweideutigkeit hervortreten ließ, ohne die Staaten
bilder zu beeinträchtigen, keine, die eine gleiche Vereinigung wissenschaftlicher
Grundlage mit praktischem und ästhetischem Werte verband. Wie gesagt, die
sogenannte „niederländische Illuminierungsmanier“ hat in den Karten der Perthes-
schen Anstalt die Auferstehung gefeiert. Wir können diese Zeit auf 1805 zurück
datieren. 3 Das politische Bandkolorit ist geradezu für die Hauptkartenwerke der
Gothaer Anstalt charakteristisch. Auch der neue Stieler ist von der alten Gewohn
heit nicht abgegangen, selbst da nicht, wo das ästhetische Bild samt der klaren Über
sichtlichkeit gestört wird. 4 Alfred Kirchhoff ruft bei der Betrachtung der Thüringer-
Karte aus: „Aber die Freude, sich in das mit sichtlich hingebendem Fleiß
entworfene Naturgemälde zu vertiefen, wird einem vergällt durch die gräulich bunten,
breiten Grenzbänder der staatlichen Zerstückelung.“ Nun ist es ja richtig, daß die
politischen Grenzen, besonders w r o sie mit den physischen Bichtlinien zusammen
fallen, wie auch H. Habenicht bezüglich der Ausgabe vom Anfang des neuen Jahr
hunderts hervorhebt 5 , häßliche Formen aufweisen und die Harmonie des Karten
bildes stören, aber trotzdem müßte auf verschiedenen Stielerkarten im Interesse der
Deutlichkeit des physischen Kartenbildes das politische Grenzkolorit noch mehr
zurücktreten. Wo das Gelände nicht in der ausgezeichneten Weise wie bei Stieler
hergestellt ist, irritiert ein breites politisches Bandkolorit weniger, wie z. B. auf den
Karten in Schräders Atlas géographique universelle.
Wiewohl das politische Kartenbild heute ebenso seine Berechtigung liât wie
vor zweihundert Jahren, wird es doch hin und wieder diskreditiert, namentlich in
pädagogischen Kreisen 6 , wo man von der Erwägung ausgeht, daß lediglich das rein
1 Wie die Karte der Verkehrsanstalten von Bayern, Württemberg und Baden. Zugleich
Straßen- u. Ortsentfernungskarte, unter amtlicher Leitung bearbeitet u. ausgeführt in der Kgl. bayr.
privil. Kunstanstalt von Piloty & Loehl. 1: 1 / 3 Mill. oder 1 km = 3 mm. Vgl. C. Scherrers
Besprechung über vorgenannte Karte i. P. M. 1895, LB. 674, S. 144.
2 Ad. Stieler: Atlas von Deutschland, dem Königreich der Niederlande, Königreich Belgien
u. der Schweiz. 1 : 750000. 25 Bl. Gotha, neueste Ausg. 1855. Die Karte wurde 1826 — 1836 zum
ersten Male bearbeitet.
3 K. E. A. v. Hoff: Das Teutsche Reich vor der französ. Revolution u. nach dem Frieden
von Luneville. Gotha 1801, 1803. Darin: Teutschland nach dem Reichs Schlüsse vom 27. April
1803 mit d. bis zum Sept. 1804 erfolgten Veränderungen. Gotha bei J. Perthes, 1805. Entworf.
u. gezeichnet von A. Stieler. — Ohne Terrain, aber sehr sauber politisch bunt koloriert.
4 Insonderheit ist es die Karte 13 „Thüringische Staaten“; hier wird offenbar das Karten
bild durch die eingetragenen politischen oder administrativen Grenzen belastet und büßt an Über
sichtlichkeit ein, was auch H. Wagner und A. Kirchhoff empfunden und getadelt haben; vgl.
letztem über die neunte Auflage von Stielers Hand-Atlas in P. M. 1905, S. 262.
5 H. Habenicht: Die Terraindarstellung im „Neuen Stieler“. P. M. 1903, S. 33.
6 H. Harms sagt in seinen Schulkartographischen Grundsätzen (1899, S. 3): „Wenn es
möglich ist, auf der physischen Karte auch die Staatenbildung genügend deutlich darzustellen, so
ist damit der besondern politischen Karte das Todesurteil gesprochen.“