II. Kapitel: Begründung des Schulwesens. Anfänge des Unterrichts. 99
die Wurzelausziehung und die Proportionen ausgedehnt haben. Die Regel-
detri diente zur Lösung aller Aufgaben des täglichen Lebens; man lehrte
auch die indirekte Regeldetri (regula trium eversa), die zusammengesetzte
Regeldetri, die je nach der Zahl der gegebenen Glieder regula duplex,
regula de quinque, regula de septem genannt wurde, die Gesellschafts-
rechnung und die Mischungsrechnung. Um die Ausziehung der Quadrat-
wurzel an praktischen Beispielen zu üben, nahm Gemma Frisius den pytha-
goreischen Lehrsatz auf, dessen Anwendung zu passenden Aufgaben führen
mußte. Auch mit den Kubikzahlen und Kubikwurzeln beschäftigte sich
sein Lehrbuch, und er versuchte durch Anwendung der regula falsi Auf-
gaben zu lösen, welche die Ausziehung von Quadratwurzeln und Kubik-
wurzeln erfordern. Proportionen unterschied Gemma Frisius drei, die
arithmetische, geometrische und musikalische (= harmonische). In der
letztgenannten Bezeichnung erkennen wir wieder die alte Verbindung
von Musik und Arithmetik des Quadriviums, die ja ihren Ausdruck auch
darin gefunden hat, daß zu jener Zeit und noch zwei Jahrhunderte
später der „Cantor‘ zugleich Lehrer des Rechnens und der Arith-
metik war.
Eine Methodik dieses Unterrichts konnte zu einer Zeit, in welcher es
noch keine Wissenschaft der Pädagogik gab, sondern erst die erfahrungs-
mäßigen Grundlagen derselben gewonnen werden mußten, noch nicht
entwickelt sein. Wie die Lehrbücher nur die Regel brachten, ohne auf
ihre Begründung näher einzugehen, so war auch das Lehrverfahren ein
rein dogmatisches und bezweckte nur ein mechanisches Können, als
höchstes Ziel eine gewisse Gewandtheit in der Handhabung aller Rech-
nungsarten ohne tieferes Verständnis. Erst wurde eine Erklärung gegeben,
was gerechnet werden sollte, dann die spezielle Aufgabe gestellt, darauf
folgte die Regel, dann die Ausführung dieser Vorschrift, und endlich wurde
das Ergebnis durch die Probe geprüft. Das ganze Lehrverfahren jener
Zeit liegt also gleichsam in den Worten Adam Rieses: „Thu ihm also,
und kumpt recht.“ Bemerkenswert ist, daß die Lateinschulen sofort
mit der numeratio figuralis, dem Ziffernrechnen, begannen, niemals
vorher die numeratio linealis, das Rechnen auf den Linien trieben, so
anschaulich doch dieses für die „erkäntnüß der zifern‘ war. Die höheren
Schulen verschmähten also von vornherein die einfachen Hilfsmittel der
Volksschulen und Rechenschulen, sie scheinen für die entbehrlich, welche
zu künftigen Gelehrten herangebildet werden sollten. Es lag dann auch
in der Natur der Sache, daß das angewandte Rechnen auf den Latein-
schulen nur in geringer Ausdehnung betrieben wurde, da auf ihnen doch
keine tüchtigen Rechner für das praktische Leben gebildet werden sollten,
und diesen, dem praktischen Rechnen feindlichen Zug haben die humani-
stischen Lehranstalten bis auf den heutigen Tag beibehalten.
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