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Ladislaus v. Bortkiewicz,
Die Anwendbarkeit eines Rechnungsprinzips ist noch keine Empfehlung
für die Benutzung desselben in der Praxis. Wird die Frage gestellt, ob mit
einfachem oder mit zusammengesetztem Zins gerechnet werden soll, so kann die
Entscheidung dieser Frage offenbar nur davon abhängig gemacht werden, welches
von beiden Rechnungsprinzipien den realen Verhältnissen, um die es sich hierbei
handelt, entspricht.
Kommt für die Rechnung in einer konkreten Aufgabe irgend ein n-jähriger
Zeitraum in Betracht, so würde es nur in dem Fall geboten erscheinen mit ein
fachem Zins zu rechnen, wenn die zur Bezahlung gelangenden Zinsbeträge nicht
eher ihrerseits verzinslich angelegt werden könnten als bis jeweils die betreffenden
n Jahre abgelaufen wären. Wo im Gegenteil in Bezug auf die Umwandlung von
Zinsen in zinstragendes Kapital weder rechtliche noch faktische Einschränkungen
bestehen, so daß solch eine Umwandlung während der betreffenden n Jahre
stattfinden kann, da empfiehlt es sich naturgemäß den zusammengesetzten Zins
den Berechnungen zugrunde zu legen, und zwar sowohl bei Aufzinsung wie bei
Diskontierung („Abzinsung“) der in Betracht kommenden Geldsummen.
Wie verhält es sich damit in der Wirklichkeit? Wo die Grundsätze
eines bankmäßigen Betriebs in Geltung sind, also z. B. auch bei der Lebensver
sicherung, wird niemals vor einer verzinslichen Anlegung von Summen, die dem
Gläubiger oder dem Schuldner zufließen, aus dem Grunde Halt gemacht, weil
diese Summen ihrer Provenienz nach möglicherweise als Zinsen charakterisiert
werden müssen. Es ist unerfindlich, warum man die Zinsen sollte brach liegen
lassen. Es fehlt jegliches Motiv für eine derartige Geschäftspraxis.
Darum muß auch die Theorie der betreffenden Kreditoperationen stets
den zusammengesetzten Zins in Ansatz bringen und demgemäß die Diskontierung
nach derjenigen Formel ausführen, die Leibniz für die einzig richtige hielt. Ihre
Begründung findet aber die Anwendung dieser Formel nicht sowohl in dem Zwang
mathematischer Beweisführung als vielmehr in gewissen wirtschaftlichen Voraus
setzungen.
Die nämlichen Voraussetzungen rechtfertigen den Anatocismus. Ist doch
dem Gläubiger, der die ausbedungenen Zinsen nicht rechtzeitig- erhält, gerade
deshalb ein Recht auf Entschädigung in Gestalt von Zinseszinsen einzuräumen,
weil er sonst die Zinsen hätte kapitalisieren können.
Der Zusammenhang zwischen diesem Recht des Gläubigers und jener
Diskontierungsformel ist so handgreiflich, daß man fast geneigt wäre, die bona
fides von Leibniz, der ihn so entschieden in Abrede stellte, in Zweifel zu ziehen,
wenn darüber nicht auch bei den Neueren, wie vorhin gezeigt worden ist, eine
gewisse Unklarheit zu bestehen schiene.