358 V. Abschnitt, § 1. Differentialgleichungen erster Ordnung, Allgemeine«
Dieser analytischen Formulierung der Aufgabe läßt sich eine geome
trische an die Seite stellen. Werden x, y als (rechtwinklige) Koordinaten
eines Punktes der Ebene aufgefaßt, so bedeutet y den Richtungskoeffi
zienten der Tangente an die den Verlauf von y darstellende Kurve im
Punkte x/y. Die Gleichung (1) lösen heißt dann alle Kurven bestimmen,
deren Punkte im Verein mit den ungehörigen Tangenten die Gleichung be
friedigen
in noch anderer Weise kann die Gleichung (1) aufgefaßt — gerade
diese Auffassung hat sich als dem tiefem Verständnis der Differential
gleichungen sehr förderlich erwiesen — und die Forderung nach ihrer
Lösung ausgesprochen werden, wenn man sich des Be
griffs „Linienelement" 1 ) bedient; darunter soll der Kom
plex aus einem Punkte x/y und einer durch ihn gehen
den Geraden (Fig. 217) verstanden werden 2 ); bezeichnet
man den Richtungskoeffizienten der letzteren mit y' f so
sind x/y ly die Koordinaten des Linienelementes; der Punkt
x/y soll insbesondere sein Träger heißen.
Angenommen, die Gleichung (1) lasse sich in bezug auf y auflösen
und gebe die eindeutige Lösung
y = cp(x, y); (2)
dann gehört zu jedem xjy (der ganzen Ebene oder eines Bereichs) ein
Wert y, die Gleichung umfaßt so viele Linienelemente, als es Punkte
in der Ebene gibt; mit anderen Worten, sie definiert ein zweifach unend
liches System von Linienelementen. Man pflegt dies auch so auszudrücken,
daß man sagt, cp(x, y) bestimme ein Richtungsfeld, weil zu jedem
Punkte xjy eine bestimmte Richtung gehört. Die Gleichung zu lösen wird
also nach dem Vorausgehenden dahin zu deuten sein, die durch sie de
finierten Liniendemente auf alle möglichen Arten in einfach unendliche
Scharen ordnen derart, daß die Punkte eine Kurve und die Geraden die
Tangenten dieser Kurve in den zugeordneten Punkten bilden.
1) Die Einführung dieses Begriffes in die Geometrie überhaupt und in die
Theorie der Differentialgleichungen insbesondere ist Sophus Lie (1870—1871) zu
verdanken. Näheres in den von G. Scheffers herausgegebenen Vorlesungen über
Differentialgleichungen mit bekannten infinitesimalen Transformationen, 1891.
2) Es handelt sich dabei nach der Bedeutung von y um eine ungerichtete
Gerade, weil zu den in üblicher Weise gezählten Winkeln beider Richtungen in
einer Graden dieselbe Tangens gehört. ♦