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heiten seiner geistigen Kräfte mit getroffen ist. Für einen mit
unbegrenztem Verstände begabten Menschen, dem die letzten von
uns durch eine lange Kette von Schlüssen erhaltenen Konsequenzen
unmittelbar evidente Wahrheiten wären, würde eigentlich keine
Wissenschaft mehr existieren, wenn er auch den Objekten derselben
genau ebenso gegenüberstände, wie wir es tun. Diese Verschieden
heit der Auffassung des Gegenstands einer Wissenschaft findet ihren
Ausdruck in den verschiedenen Formen, den verschiedenen Systemen,
in welche man sie einzurahmen sucht. Dies zeigt sich überall. So
in den beschreibenden Naturwissenschaften bei der Gruppierung, der
Klassifikation des Materials. Je nach der großem oder geringem
Wichtigkeit, welche der Naturforscher einem Merkmal, als einem zur
Unterscheidung und Klassifikation geeigneten Begriffe, beilegt, erhebt
er denselben zu einem Haupteinteilungsgrunde, oder benutzt ihn nur
zur Bezeichnung unwesentlicher Verschiedenheiten. So streiten in der
Mineralogie die Systeme miteinander, von denen das eine sich auf
die chemische Konstitution der Mineralkörper, das andre auf ihre
kristallographische, morphologische, Beschaffenheit stützt, ohne daß
es bis jetzt gelungen wäre, beide miteinander in vollständige Harmonie
zu setzen. Jedes dieser Systeme hat ein großes Recht für sich,
weil die Wissenschaft weiterhin selbst lehrt, daß die ähnlichen
Körper sich so am natürlichsten zusammengruppieren. Aber es wird
keinem Mineralogen einfallen, etwa die Farbenverschiedenheiten
als die charakteristischsten Merkmale hervorzuheben und eine hier
auf beruhende Einteilung allen andern vorzusetzen. A priori ließe
sich natürlich kein Grund dagegen angeben; aber die Erfahrung
lehrt in dem weitern Fortgange der Forschung, daß die Farbe für
die wahre Natur der Körper nicht von ebenso hoher Bedeutung ist
als die vorher angeführten Merkmale, oder um mich so auszudrücken,
sie lehrt, daß man mit diesem Merkmal nicht so sicher, so wirksam
operieren kann, wie mit den andern. Die Einführung eines solchen
Begriffs, als eines Motivs für die Gestaltung des Systems, ist gewisser
maßen eine Hypothese, welche man an die innere Natur der Wissen
schaft stellt; erst im weitern Verlauf antwortet sie auf dieselbe; die
größere oder geringere Wirksamkeit eines solchen Begriffs bestimmt
seinen Wert oder Unwert.
Ähnliches wiederholt sich in der Rechtswissenschaft; bei dem
Versuch, teils die Rechtsverhältnisse, teils die Rechte selbst zu syste