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in den Handschriften sich unter den Definitionen oder Axiomen des
fünften Buches der obige Passus (D) dem Inhalte nach yorfände, so
bin ich der Meinung, es würde Niemand denselben für überflüssig
oder selbstverständlich erklären; vielmehr glaube ich, daß dann unter
denjenigen, welche die Arithmetik auf dem Begriffe der Zahl als
Größen-Yerhältniß aufbauen wollen, sich gewiß schon Jemand ge
funden hätte, der erkannt und gesagt hätte: „Mit dieser präcis
definirten Vollständigkeit des Größen - Begriffs ist auch die Voll
ständigkeit des Zahlbegriffs gegeben, welche zum strengen Aufbau
der Arithmetik der reellen Zahlen ausreichend und unentbehrlich ist.“
Und ich glaube, wir besäßen in diesem Falle bessere Lehrbücher der
Arithmetik, als die wir wirklich haben. Aber Euklid schweigt voll
ständig über diesen, für die Arithmetik wichtigsten Punct, und deshalb
kann ich Ihrer Ansicht nicht zustimmen, daß bei Euklid die voll
ständigen Grundlagen für die Theorie der irrationalen Zahlen zu
finden seien. Wenn Euklid es nicht für überflüssig hält, in der
Erklärung des fünften Buches, die Sie in Ihrem vorletzten Briefe
lateinisch angeführt haben, eine so einfache Eigenschaft der Größen
namhaft zu machen, so würde er den viel complicirteren Charakter (D)
der Stetigkeit ganz gewiß in seiner Art ebenfalls definirt haben, wenn
er desselben in seinem System bedurft hätte. Sie sagen dagegen,
diese Vollständigkeit oder Stetigkeit sei selbstverständlich und brauche
also nicht ausgesprochen zu werden, kein Mensch könne sich eine
Linie ohne dieselbe, also ohne die obige Eigenschaft (C) denken.
Obgleich dies Heranziehen der Geometrie zur Begründung der
reinen Arithmetik, wie Sie im voraus vermutheten, ganz gegen meine
Neigung ist, so will ich mich doch jetzt selbst auf diesen Standpunct
stellen; aber auch dann kann ich Ihnen nicht beistimmen; ich kann
mir den ganzen Raum und jede Linie in ihm, wie ich schon am
Schlüsse des § 3. meiner Schrift hinter (C) bestimmt ausgesprochen
habe, durchweg unstetig vorstellen; ein zweiter Mensch dieser
Art wird wohl Herr Prof. Cantor in Halle sein, wenigstens
scheint dies aus seiner von mir citirten Abhandlung hervorzugehen;
und ich sollte meinen, jeder Mensch kann dasselbe. Man wird
mir vielleicht entgegnen, daß ich mich über mein räumliches Vor
stellungsvermögen täusche, daß nämlich Jeder, der den stetigen
Raum zu denken fähig ist, eben deshalb unfähig sein müsse, den
Raum sich als unstetig vorzustellen, weil von vorneherein im Raum