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REDE AM 3. AUGUST 1900.
Ähnlich ist es mit den doppeltperiodischen (elliptischen) Functionen be
stellt. Diese besitzen ebenfalls ein Additionstheorem, welches eine Funda
mentaleigenschaft dieser Functionen in dem Sinne darstellt, dass aus der
selben alle anderen Eigenschaften dieser Functionen hergeleitet werden können.
Dieser Umstand hat es Weierstrass, dem unvergesslichen Meister der Analysis,
möglich gemacht, in einer späteren Epoche seiner Vorlesungen an hiesiger
is] Universität, vom Additionstheorem ausgehend, die ganze Theorie der ellip
tischen Functionen aufzuhauen.
Eines der lehr- und folgenreichsten Beispiele für die Bestimmung einer
Function durch besondere Merkmale vollzog sich an der Theorie des Potentials,
jener Function, welche in der Physik überall, wo das NEWTOxsche Gesetz
gilt, insbesondere in der Lehre vom Magnetismus und von der Electricität,
von so grosser Bedeutung geworden ist. Der Werth des Potentials ist von
der geometrischen Gestalt der Massen, auf welche dasselbe Bezug nimmt, und
von der Dichtigkeit derselben abhängig, und ist durch ein einfaches oder
mehrfaches bestimmtes Integral dargestellt. Die wirkliche exacte Berechnung
jedoch ist nur in den seltensten Fällen durchführbar, unter einer solchen Be
rechnung die Darstellung durch bekannte Functionen verstanden. Es ist einer
der schönsten Gedanken des grossen mathematischen Denkers G. Lejeuxe-
Dirichlet gewesen, dem Ausdrucke des Potentials diejenigen functionalen
Eigenschaften abzulauschen, durch welche die Abhängigkeit seines Werthes
von der Lage der durch die NEwroxschen Kräfte afficirten Massen vollkommen
und unzweideutig bestimmt wird. Hierdurch ist die Frage der Ausrechnung in
den Hintergrund gedrängt und für die wichtigsten Schlüsse sogar entbehrlich
gemacht.
Der von Dirichlet am Potential entwickelte Gedanke ist seitdem zu
einem fundamentalen Princip für alle Gebiete der mathematischen Physik,
namentlich für die Lehre der Electricität und des Magnetismus, sowie für
die Lehren der Wärme und der durch die Elasticität hervorgerufenen Be
wegungen ausgewachsen; und es war noch Dirichlet selbst vergönnt, die
leitenden Gedanken an grossen Beispielen zu verwirklichen. Überall begegnen
wir hier gewissen Differentialgleichungen, welche die physikalischen Vorgänge
16] definiren. Es liegt jedoch in der Natur solcher Differentialgleichungen,
dass sie eine unendliche Mannigfaltigkeit von Lösungen darbieten. Aus dieser