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REDE AM 3. AUGUST 1900.
Differentialgleichungen zeigt, wo von vornherein die Form der Quadratur ge-
20] geben ist. Eine solche auf eine Quadratur zurückführbare Differential
gleichung ist z. B. diejenige, welche durch elliptische Functionen gelöst wird,
und es war nichts weniger als die Theorie dieser Functionen erforderlich,
um eine Einsicht in die Natur der Lösungen der Differentialgleichung zu ge
winnen.
Und was die letzte Zuflucht anhetrifft, die Lösungen der Differential
gleichungen durch Leihen darzustellen, so musste dieser Versuch an dem
Umstande scheitern, dass solche Leihen in der Legel die Function nicht für
den ganzen zulässigen Bereich der unabhängigen Veränderlichen liefern.
Auch auf diesem Gebiete haben die Arbeiten von Cauchy und die seiner
Schüler den Weg geebnet, auf welchem sich im XIX. Jahrhundert ein voll
ständiger Umschwung in der wissenschaftlichen Behandlung der Differential
gleichungen vollzog. Wie Gauss zum ersten Male eine strenge Begründung
des Satzes gegeben hat, dass jede algebraische Gleichung eine Wurzel besitze,
so hat Cauchy für die Differentialgleichungen eine sichere Grundlage durch
den Nachweis geschaffen, dass es immer Lösungen der Differentialgleichungen
gebe, welche gewissen vorgeschriebenen Bedingungen genügen. Die Existenz
solcher Lösungen stellt Cauchy zuerst für beschränkte Gebiete der Veränder
lichen, dann aber durch sein Fortsetzungsprincip für den ganzen Geltungs
bereich der Functionen fest. — Briot und Bouquet, Schüler von Cauchy,
haben seine Principien an der Theorie der Differentialgleichungen erster Ord
nung in einer im Jahre 1856 erschienenen Arbeit erprobt, welche als ein
Markstein auf dem Wege bezeichnet werden muss, den seitdem die Lehre
von den Differentialgleichungen eingeschlagen hat.
Es ist hier natürlich nicht am Platze, eine Geschichte der Entwickelung
dieser Disciplin bis auf die jetzige Zeit zu geben. Jedoch sei mir gestattet,
21] auf die Gedanken hinzuweisen, welche bei der begrifflichen Bestimmung
der durch Differentialgleichungen definirten Functionen durchgängig die lei
tenden sind. Wenn der Geograph die Configuration eines Landes beschreiben
will, so werden ihm alle die Theile, welche eine gleichmässige und zusammen
hängende Beschaffenheit haben, keine Anhaltspunkte zur Characteristik des
Landes geben können. Er muss die Unterbrechung des Planums durch Flüsse
und Seen, die Erhebungen des Bodens, wie sie das Gebirge darbietet, um es