ANWENDUNG DER WAHRSCHEINLICHKEITSRECHNUNG ETC.
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schlagung erwartet werden, und unter Deficit den Unterschied, wenn für die Ausgabe eine grössere Summe
sich ergibt, als für die Einnahme. In einem solchen Zusammenhänge sind Überschüsse und Deficit ein
ander gerade entgegengesetzt, und das eine schliesst das andere von selbst aus.
Von einer solchen Rechnung unterscheidet sich diejenige, welche in der zweiten Abtheilung der
Denkschrift für die Witwenkasse geführt ist, in zwei wesentlichen Stücken.
1) Die letztere vergleicht nicht die Ausgaben und Einnahmen für Ein Jahr, oder für einige Jahre,
sondern umfasst beide für die ganze unbegrenzte Zukunft, so weit und so genau, als es möglich ist, die
selbe im Voraus zu veranschlagen.
2) Sie summirt nicht die Gelder selbst, in der Grösse wie sie werden verausgabt oder vereinnahmt
werden (was auch wegen der Unbegrenztheit ohne Sinn sein würde), sondern deren nach bestimmtem Zins-
fuss auf den Anfangszeitpunkt discontirte oder reducirte Werthe. In diesem Sinne lässt sich auch eine ohne
Begrenzung fortlaufende Reihe von Ausgaben oder Einnahmen doch zu einem bestimmten endlichen Re
sultate summiren, und diese Möglichkeit leuchtet leicht ein, wenn man bedenkt, dass eine Geldsumme
durch Discontirung für einen sehr langen Zeitraum ganz enorm zusammenschmilzt, wie z. B. eine nach 422
Jahren zu leistende Zahlung von 7 000 Rthl. nach dem Zinsfusse von Procent jetzt nur den Werth von
einem Pfennig hat. Noch leichter kommt man zu demselben Resultate durch die Erwägung, dass der jetzige
Geldwerth einer ohne Auf hören jährlich in gleicher Grösse zu leistenden Zahlung nichts anderes ist, als
die Kapitalsumme, welche nach dem gewählten Zinsfusse jährlich einen eben so grossen Zins abwirft.
Es ist nun zwar schon von selbst klar, dass wenn nach den factischen Grundlagen einer solchen
Rechnung die Ausgaben in späterer Zeit grösser sein werden als jetzt, die ausser den Kapitalzinsen aber
noch Statt findenden Einnahmen hingegen in der Rechnung nicht als steigend angenommen werden dürfen,
das Resultat der Rechnung ein Deficit sein wird, falls jetzt Einnahme gegen Ausgabe keinen Überschuss
gibt. Allein es lässt sich nicht ohne Weiteres umgekehrt behaupten, dass wenn jetzt Überschüsse von der
Einnahme gegen die Ausgabe Statt finden, kein Deficit in der Totalrechnung seinAverde, denn dazu wird
nicht nur das Dasein von Überschüssen sondern eine hinlängliche Grösse derselben erfordert. Hat eine
richtige Total-Bilanz-Rechnung als Endresultat ein Deficit ergeben, so steht dadurch fest, dass die jetzi
gen jährlichen Überschüsse zu klein sind, um die in späterer Zeit bevorstehenden Ausfälle zu decken. Die
richtige Rechnung hat die gegenwärtigen zeitweiligen Überschüsse schon als Bestandtheile der Bilanz mit
berücksichtigt, und dieselben dürfen der Anstalt nicht zweimal in Einnahme gestellt werden.
Eben so falsch, wie die Einbildung, dass jetzige zeitweilige Überschüsse ein jetzt vorhandenes De
ficit vermindern werden, ist die Vorstellung, dass dies Deficit dann getilgt sein werde, sobald das Vermö
gen eine dem Betrage des Déficits gleichkommende Vergrösserung erhalten habe. Ein solcher Schluss ist
nur in dem einzigen Falle zulässig, wenn die Vergrösserung des Vermögens sogleich und zwar durch fremde
in der Bilanz nicht schon enthaltene Zuflüsse bewirkt wird. Gesetzt z. B. das Vermögen der Witwenkasse
habe sich nach 2 0 Jahren (etwa theilweise unter Mitwirkung von neuen Zuflüssen die aber nicht fortdauern
der Art wären) um 17 520 Rthl. vergrössert, so wird darum alsdann doch das Deficit nicht gehoben sein,
sondern es kann dann möglicherweise grösser sein als jetzt. Die Bilanz am i. Oct. 1 865 wird nemlich her
vorgehen aus Vergleichung des dann vorhandenen Kassen Vermögens mit dem auf diesen Zeitpunkt discon-
tirten Betrage aller von da an bevorstehenden Ausgaben, welcher Betrag viel grösser sein wird, als der
ähnliche Betrag für den l. Oct. 1845, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil 1 865 der Zeitpunkt der
viel grossem jährlichen Ausgaben so viel näher gerückt sein wird, ja höchst wahrscheinlich diese alsdann
schon in bedeutendem Maasse eingetreten sein werden.