202 CLEMENS SCHAEFER, ÜBER GAUSS’ PHYSIKALISCHE ARBEITEN.
variiert, dass also im Allgemeinen chromatische Aberration auftritt. Zur
Achromasie wird nun aber erfordert, dass alle parallelen Strahlen unabhängig
von der Farbe sich in einem Punkte vereinigen, d. h. nicht nur solche, die
parallel der Achse einfallen, sondern auch solche, die geneigt dagegen sind.
Mit andern Worten'): »Die verschiedenfarbigen Bilder eines ausgedehnten, als
unendlich entfernt betrachteten Gegenstandes müssen nicht bloss in eine Ebene
fallen, sondern auch gleiche Grösse haben. Die erste Bedingung beruht auf
der Identität des hinteren Brennpunktes für verschiedenfarbige Strahlen, die
zweite auf der Gleichheit der Brennweiten, und da diese die Entfernung
des zweiten Brennpunktes vom zweiten Hauptpunkte ist, so kann man auch
die beiden Bedingungen dadurch ansdrücken, dass beide Punkte zugleich
für rote und violette Strahlen dieselben sein müssen.«
Bei den gewöhnlichen achromatischen Objektiven, bei denen die Linsen
dicht bei einander stehen, ist mit der ersten Bedingung auch nahezu die
zweite immer erfüllt, nicht aber bei den dialytischen Objektiven. Man
erkennt hier, wie Gauss durch seine Theorie der Hauptpunkte zum ersten
Male zur Erkenntnis der zweiten Bedingung geführt wurde und woher seine
Bedenken gegen das dialytische Prinzip* stammten. Wir haben im Vorhergehen-
den gezeigt, auf welche Weise sich diese Schwierigkeiten dennoch lösen lassen.
100. Die GAUsssche Dioptrik ist der Abschluss und die Vollendung der
jenigen Untersuchungen, die sich auf Zentralstrahlen (Parachsialstrahlen),
d. h. auf die punktweise Abbildung durch enge Strahlenbüschel beziehen.
Wenn man von der Einführung der sog. »Knotenpunkte« durch Möbius')
absieht, hat in materieller Hinsicht der GAUssschen Theorie im Laufe fast
eines Jahrhunderts nichts hinzugefügt werden können. Dennoch ist die Be
deutung der GAUssschen Untersuchung für die heutige praktische Optik
gering, da man sich eben nicht auf enge Strahlenbüschel beschränken kann,
sondern mittels weitgeöffneter Strahlenbüschel abbilden muss. Einmal aus
Gründen der Intensität, da enge Büschel keine nennenswerte Energie trans
portieren, dann aber auch, weil die Beugung umso störender hervortritt, je
enger die Öffnung des Strahlenbüschels ist. Statt dass die Abbildung durch
1) Dioptrische Untersuchungen a. a. O., S. 274.
2) A. F. Möbius, Grelles Journal f. d. reine und angewandte Mathematik, Bd. 5, S. 113, 18 3o.
MÖBIUS’ Gesammelte Werke IV (1887), S. 477—511.