KOLLINEARE VERWANDTSCHAFT.
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enge (parachsiale) Büschel besonders gut ist, wie es die geometrische Optik
behauptet, ist sie in Wirklichkeit, wie es auch nach der Wellentheorie zu
erwarten ist, besonders schlecht, weil ein Objektpunkt in ein umso grösseres
BeugungsScheibchen abgebildet wird, je enger das die Abbildung vermittelnde
Strahlenbüschel ist. Man kann geradezu sagen, dass der Abbildung durch
Zentralstrahlen gar keine Bedeutung zukommen würde, wenn nicht die be
grenzte Empfindlichkeit des Auges es mit sich brächte, dass eine streng
stigmatische Abbildung nicht verlangt wird.
Ein Punkt ist bei Gauss besonders merkwürdig. Die hier betrachtete
Abbildung des Objektraumes auf den Bildraum ist von folgender Art: Jedem
Punkte P des Objektraumes entspricht ein Punkt P* des Bildraumes, jeder
durch P gehenden Geraden G entspricht eine durch P* gehende Gerade G*,
und jeder die Gerade G enthaltenden Ebene E entspricht eine G* enthaltende
Ebene E*. Es entsprechen sich also Punkte, Strahlen, Ebenen in
beiden Räumen gegenseitig eindeutig und das Ineinanderliegen
bleibt erhalten; eine solche Beziehung ist aber eine rein geometrische
Angelegenheit und wird als »kollineare Verwandtschaft« bezeichnet.
Daraus ergibt sich aber, dass dadurch, dass man eine kollineare Verwandt
schaft zwischen zwei Räumen statuiert, die mathematischen Beziehungen zwischen
den Dingen im Objektraum und ihren Bildern im Bildraum auch rein mathe
matisch festgelegt sind, d. h. ohne irgendeine Beziehung auf physika
lische Mittel, durch die die kollineare Verwandtschaft realisiert werden
kann. Die geometrischen Beziehungen beider Räume zueinander stehen fest,
auch wenn es gar kein Mittel in der Natur gäbe, diese Beziehung physi
kalisch herzustellen. Die aufeinanderfolgenden Brechungen und Reflexionen
haben also mit dem geometrischen Problem an sich nichts zu tun, sie sind
vielmehr grundsätzlich davon zu trennen. Diese Trennung ist bei Gauss nicht
nur nicht durchgeführt, sondern er hat, wie man wohl annehmen muss, ihre
Möglichkeit und Notwendigkeit gar nicht erkannt; es entging ihm anscheinend
die Erkenntnis, dass alle Annahmen über die besondere Art der Verwirk
lichung einer optischen Abbildung den Kern der Frage, d. h. deren allge
meine Gesetze überhaupt nicht tangieren. Es scheint Möbius 1 ) der erste i)
i) A. F. Möbius, Entwickelung der Lehre von dioptrischen Bildern mit Hülfe der Collineationsver-
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