Formen des Fiktionsbegriffs
i.
Fiktivität dieser Gebilde voll bewußt sein.
An diesem Merkmal hält Vaihinger dem äußeren Wortlaut
nach ziemlich streng fest, aber man kann sich ernstlich fragen,
ob dies auch dem Sinn seiner Ausführungen nach der Fall ist.
Nehmen wir eine sehr eingehend behandelte Erscheinung, das
Gesetz der Ideenverschiebung. Vaihinger führt hier den Nach
weis, daß ein gewisses Gebilde zuerst als Dogma in der Wissen
schaft auftreten, dann zur Hypothese werden und schließlich
eben noch als Fiktion beibehalten werden könne. Es stehen
nun zwei Möglichkeiten zur Diskussion:
1. Die tatsächlichen inneren Merkmale des betreffenden
Gebildes wandeln sich allmählich, man nimmt neue Merkmale
herein, oder läßt frühere fallen, weil man sie als überflüssig
oder unbrauchbar ansieht; dann aber hat man es faktisch mit
einem neuen Denkgebilde zu tun und die hypothetische oder
fiktive Natur des neuen Gebildes kann nichts ausmachen über
den Charakter des früheren.
2. An dem Gebilde selbst hat sich nichts geändert, sondern
nur in unserer Einstellung zu demselben: Wir erkennen ge
wisse Merkmale als unwirklich, die wir früher für faktisch
hielten, oder wir leiten aus einzelnen Merkmalen solche ab, die
die Unwirklichkeit oder gar die widerspruchsvolle Natur des
Gebildes erweisen. Trotzdem behalten wir es bei, wissen aber
jetzt, daß eine Fiktion vorliegt. War das nun vorher keine
Fiktion, solange wir nicht auf die zu ihrer Feststellung nötige
Stufe der Einsicht gelangt waren? Entweder geben wir zu,
daß auch schon vorher eine Fiktion vorlag dank der Merkmale
der Unwirklichkeit oder der inneren logischen Widersprüche,
die schon Vorlagen, ehe sie erkannt wurden; dann kann die
Frage: bewußt oder unbewußt? nicht mehr entscheidend sein
bei der Frage nach der Fiktivität. Tatsächlich haben auch ver
schiedene Autoren (vgl. W. del Negro, B. Fließ, Dempwolff)
dieses Merkmal fallen gelassen, indem sie auch unbewußte
Fiktionen zuließen. Oder aber wir bleiben bei der Forderung,
die Fiktivität müsse bewußt sein, dann kann die Entscheidung
im einzelnen Fall, ob eine Fiktion vorliegt oder nicht, keine
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