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Formen des Piktionsbegriffs
sogar eine gewisse Vorzugsstellung gegenüber den Wahr
nehmungen ein. So betont er, daß der Geometer sich in der
Phantasie um klare Anschauungen bemühen müsse, daß er
• aber unvergleichliche Freiheit in der willkürlichen Umgestal
tung der fingierten Figuren habe, die ihm den Zugang in die
Weiten der Wesensmöglichkeiten mit ihren unendlichen Hori
zonten von Wesenserkenntnissen allererst eröffne. Wir wun
dern uns daher nicht, daß Husserl die „Fiktion“ das Lebens
element der Phänomenologie, wie aller eidetischen Wissen
schaft nennt, eine Quelle, aus der die Erkenntnis der ewigen
Wahrheiten ihre Nahrung zieht 250 ).
Diese Darlegungen erinnern uns an folgende Ausführungen
H. Vaihingers 251 ): „Wenn wir als Fiktion die Bildung von
Hilfsvorstellungen durch die Einbildungskraft bezeichnen, so
lassen sich ohne Zweifel alle Hilfsmethoden, alle Kunstgriffe
des Denkens im weiteren Sinn als Fiktionen bezeichnen...“
„Die Stiftung künstlicher Zusammenhänge unter den Vor
stellungen beruht schließlich immer auf der Fiktion im wei
teren Sinne, d. h. auf der freien Schaffung oder Schöp
fung von Vorstellungsgebilden. Insofern können
wir wohl ohne Anstand alle Hilfsmethoden des Denkens als
fiktiv bezeichnen. Speziell heißen Fiktionen dann künstliche
Begriffe wie Atom, Ding an sich, als Schöpfungen der fiktiven
Tätigkeit. Alle Elementarprozesse, durch welche diese Hilfs
methoden ermöglicht sind, sind Prozesse des Fingierens, d. h.
der freien, emanzipierten Vorstellungsbewegung.“
Die bisher erörterte Definition der Fiktion ist nicht allseitig
befriedigend. So sahen wir schon beim Typus Ai, daß Vaihin-
ger außer dem Merkmal der Unwirklichkeit noch das der
Zweckmäßigkeit heranzieht. Wenn man sich aber nicht gerade
auf den pragmatistischen Standpunkt stellt, für den Zweck
mäßigkeit oberstes Prinzip ist, so wird man in diesem Moment
der Zweckmäßigkeit nur eine unwesentliche Modifikation der
oben gegebenen Definition sehen; eine Modifikation, die evtl,
für eine weitere Unterteilung in Frage käme. Tatsächlich wird
man ja auch erst nachträglich bei bereits gebildeten Fiktionen